„Vena“-Regisseurin Fleischhacker: „Das Justizsystem hat einen blinden Fleck“
Was bedeutet es für eine Frau, ein Kind hinter Gittern zu bekommen? In ihrem Spielfilm-Debüt „Vena“ geht Chiara Fleischhacker dieser Frage nach. Im Interview sagt die Regisseurin, welchen Einfluss ihre eigene Schwangerschaft auf den Film hatte und warum eine Dokumentation nicht infrage gekommen wäre.
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In freudiger Erwartung, obwohl sie ins Gefängnis muss: Jenny in Chiara Fleichhackers Spielfilm-Debüt „Vena“
Am 28. November startet Ihr Film „Vena“ im Kino. Es geht darin um eine Frau, die Drogen konsumiert, schwanger ins Gefängnis muss und mehrfach an die Grenzen des Systems stößt. Was hat Sie daran gereizt, sich mit diesem Thema in Form eines Spielfilms auseinanderzusetzen?
Schon während meines Studiums an der Filmakademie Baden-Württemberg habe ich zwei Dokumentarfilme im Strafvollzug gedreht und mich dafür sehr lange mit den Thema Strafe und dem Justizsystem befasst. Während ich den zweiten Film geschnitten habe, war ich selbst mit meiner Tochter schwanger und habe mir die Frage gestellt, wie es für schwangere Frauen ist. Müssen sie ins Gefängnis und wenn ja unter welchen Bedingungen? Ich habe dann recherchiert und bin auf Dinge gestoßen, die ich mir nicht hätte vorstellen können. Schon allein die Tatsache, dass es zur Zahl der inhaftierten Schwangeren in Deutschland keine Zahlen gibt, finde ich bezeichnend.
Und wie kam der Suchtaspekt dazu?
Eine Sucht-Vergangenheit oder eine Suchtkrankheit spielt in diesem Zusammenhang häufig eine große Rolle. Bei meiner Recherche für „Vena“ habe ich mit vielen JVA-Leiter*innen, Sozialarbeiter*innen, ehemals Inhaftierten und ehemaligen KonsumentInnen gesprochen. Aus den Gesprächen habe ich dann die Figur der Jenny entworfen: Wer ist sie? Wie sieht sie aus? Was treibt sie an? Ab einem gewissen Punkte hatte ich eine Art Jenny-Brille auf, mit der ich durch die Welt gegangen bin. Die Details, die ich im Alltag beobachtet habe sind zu den Figuren im Film verschmolzen.
Haben Sie selbst etwas beim Recherchieren für das Drehbuch gelernt?
Oh ja, sehr viel. Das Entscheidende war sicher die Frage, wie wir unseren inneren Selbstwert finden können, wenn wir ihn nicht bei der Geburt mitgegeben bekommen haben. Wertschätzung ist für viele etwas Selbstverständliches, aber bei weitem nicht für jeden. Aber nur, wenn ich mich selbst wertschätze, kann ich das auch von anderen einfordern und mich aus toxischen Umfeldern befreien, weil ich weiß, was mir guttut, und was nicht. Jenny schafft das letztlich und findet mit einer großen Kraftanstrengung ihren eigenen Weg. Mehr will ich aber nicht verraten.
Die Figur ist also aus den Schicksalen verschiedener Frauen zusammengesetzt und es gibt nicht das eine reale Vorbild?
Ja, genau. Ich habe mehr als 100 Recherchegespräche geführt. Mir war es dabei immer wichtig, mit Menschen zu sprechen, die mit Frauen in ähnlichen Situationen arbeiten, aber auch mit Frauen, die selbst Ähnliches erlebt haben. Allein fünf oder sechs Recherchegespräche habe ich mit ehemaligen Drogen-Konsumentinnen geführt und aus jedem Gespräch habe Inspirationen für Jenny mitgenommen. Die Details – die Art, wie sie die Drogen konsumiert, das glitzernde Klapprad oder das Jackett ihres Freundes Bolle am Königinnentag – haben dann am Ende wie ein Mosaik das Gesamtbild geformt.
Chiara
Fleischhacker
Das Reale in etwas Fiktives zu übertragen, schützt zum einen mich, aber auch die Menschen, über die ich erzähle.
„Vena“ ist ihr erster Spielfilm, nachdem Sie bereits drei Dokumentarfilme vorgelegt haben. Warum haben Sie das Genre gewechselt?
Neben den drei Dokumentationen habe ich bei drei Kurzfilmen schon szenisch gearbeitet und dabei in gewisser Weise Blut geleckt. Im Dokumentarischen bin ich ja sehr nah an den Protagonistinnen dran und tauche stark in ihr Leben ein. Damals fand ich die nötige, kurzzeitige Nähe und das plötzliche Austreten aus derer Leben nach Beendigung des Drehs schwierig zu verantworten. Das Reale in etwas Fiktives zu übertragen, schützt zum einen mich, aber auch die Menschen, über die ich erzähle. Hinzu kommt, dass ich seit meiner Mutterschaft einen Drang zum Schreiben entwickelt habe, den ich gut in fiktive Geschichten umsetzen kann. Trotzdem ist der Dokumentarfilm etwas ganz Wundervolles!
Lassen sich über einen Spielfilm auch mehr Menschen für ein Thema erreichen als über eine Doku?
Das weiß ich nicht, aber das war auch nie meine Motivation. Natürlich möchte ich möglichst vielen Menschen einen Zugang zum Thema ermöglichen, aber ich denke, das könnte ein guter Dokumentarfilm auch leisten. In diesem Fall war es aber nie eine Option, weil das Thema so intim ist, dass ich zum Beispiel nie mit einer aktiv konsumierenden Schwangeren gesprochen habe. Eine echte Jenny dokumentarisch zu begleiten, wäre also wahrscheinlich gar nicht möglich gewesen.
Sie haben zu Anfang gesagt, es gebe gar keine Zahlen, wieviele Schwangere in Deutschland in Haft sind, wie viele Geburten stattfinden und wie viele Kindstrennungen vorgenommen werden. Wie kann das sein?
Das deutsche Justizsystem hat hier einen blinden Fleck. Jedes Bundesland hat seine eigenen Gesetze. Inhaftierte Schwangere sind eine marginalisierte Gruppe und es gibt niemanden, der sich so richtig für sie zuständig fühlt – abgesehen von einzelnen Engagierten wie Helga Einsele, die in Frankfurt das erste Mutter-Kind-Haus in einer Haftanstalt aufgebaut hat. Gesellschaftlich lag und liegt aber auf dem Thema nie der Fokus.
Auch Jenny stößt in Ihrem Film immer wieder an die Grenzen des Systems und kann sie nur mit der Hilfe der Hebamme Marla durchbrechen, auch weil sie sich nicht hundertprozentig an alle Regeln hält. Was sagt das über das System der Familienhilfen aus?
Es gibt sehr viele Ansätze früher Hilfen für werdenden Mütter und Familien, aber es lasten auch sehr viel Druck und sehr viel Verantwortung auf den helfenden sozialen Berufen. Familienhebammen wie Marla tauchen tief in die Leben derjenigen ein, denen sie helfen sollen. Da fällt es manchmal schwer, sich abzugrenzen, denn sie müssen ein Vertrauensverhältnis aufbauen. Zum Jugendamt hingegen existiert ein Machtgefälle und ist eine zweischneidige Einrichtung: zum einen leistet es Hilfe, zum anderen kann es aber auch Kinder herausnehmen. Viele nehmen deshalb die Hilfe gar nicht in Anspruch, weil sie Sorge haben, dadurch erst auf dem Radar des Jugendamts aufzutauchen. Das ist leider ein großes Problem.
Chiara
Fleischhacker
In „Vena“ möchte ich bewusst Ambivalenzen zeigen, weil das die Figuren auch nahbar macht und man Empathie mit ihnen empfinden kann.
Das klingt alles sehr düster. Trotzdem gibt es im Film auch einige lustige Stellen. Wie wichtig war es Ihnen, dass die Zuschauer*innen von „Vena“ auch mal lachen können?
Das Leben funktioniert im Kontrast. An den idyllischsten Orten gibt es die tiefsten Abgründe und an den tristesten Orten gibt es die schönsten, hoffnungsvollen, zuversichtlichen Momente. Wir sind sehr geprägt durch Narrative, die sich in Filmen über Jahrzehnte etabliert haben. Das birgt die Gefahr von Klischees. In „Vena“ möchte ich bewusst Ambivalenzen zeigen, weil das die Figuren auch nahbar macht und man Empathie mit ihnen empfinden kann. Und wenn Jenny in der letzten Szene ein leichtes Lächeln auf den Lippen hat, zeigt das für mich auch einen Moment der Zuversicht und der Selbstbestärkung.
Der Film endet im Gefängnis, lässt aber vieles offen. Könnten Sie sich eine Fortsetzung vorstellen?
Nein, über eine Fortsetzung danke ich nicht nach, aber ich wüsste, wie ein typischer Fortlauf wäre. Natürlich wünscht man sich, dass Jenny clean bleibt und ich denke, die Chance dafür ist da. Aber die Erfahrung zeigt, dass es häufig Rückfälle gibt, wenn starke Stressfaktoren zurückkehren. Entscheidend ist der Übergang nach der Inhaftierung in die Welt draußen. Gibt es die Möglichkeit für ein stabiles Leben, in dem sie ihrem bisherigen Umfeld entkommen kann, und nicht rückfällig wird? In jedem Fall wäre es aber sehr unwahrscheinlich, dass sie ihr Kind nach der Entlassung wiederbekommen würde.
Wer sollte „Vena“ auf jeden Fall sehen?
Ich wünsche mir, dass mein Film Menschen erreicht, die sich mit Jenny identifizieren können. Entweder, weil sie selbst in einer ähnlichen Situation sind oder weil sie an Positionen im System sind, an denen sie etwas im Sinne von Frauen wie Jenny entscheiden können. Schön wäre aber, wenn „Vena“ die Nische durchbricht und auch Menschen aus anderen Milieus sich den Film ansehen. Je verschiedener das Publikum ist, desto spannender ist der Austausch danach.
„Vena“, Deutschland 2024, 116 Minuten, FSK 12, ab 28. November im Kino
Dirk Bleicker | vorwärts
ist stellvertretender Chefredakteur des vorwärts. Er betreut den Bereich Parteileben und twittert unter @kai_doering.