„Haltlos“: Packendes Drama über seelische Chaostage einer Mutter
Marta wird ungewollt schwanger und stürzt in eine existenzielle Krise. Kida Khodr Ramadans ebenso drastischer wie einfühlsamer Film „Haltlos“ erzählt davon, wie eine Frau gegen große Widerstände um ein eigenes Lebensmodell kämpft. Überragend: Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg.
Rapid Eye Movies
Marta (Lilith Stangeberg, rechts) fühlt sich selbst bei Begegnungen mit ihrer besten Freundin Fiona (Susana Abdul Majid) unverstanden.
Vollkommen verpeilt wankt eine junge Frau in schlabbriger Jeansjacke durch einen Berliner U-Bahnhof. Mit letzter Kraft versucht sie, einen Snack aus einem Automaten zu fischen. Dann bricht sie zusammen. Eine Filmminute später wird sie schreiend in den Kreißsaal gerollt. Nun beginnt für Marta ein neuer Lebensabschnitt.
Solche fast schon beiläufig inszenierten Wendungen bietet „Haltlos“ immer wieder. Man kann nicht behaupten, dass der Film besonders subtil erzählt wird. Wohl aber, dass er, zumindest was seine Hauptfigur Marta betrifft, sehr genau hinsieht, und zwar ebenso drastisch wie schnörkellos.
Erzählt wird die Geschichte einer Mittdreißigerin, die ungewollt schwanger wird und deren allenfalls geringfügig emotionale Sicherheit bietendes Leben dadurch erst recht aus dem Ruder gerät. Das hat viel mit ihrer Überempfindlichkeit, ihren Ängsten und Wünschen zu tun.
Erwartungen und Vorwürfe verstärken die Krise
Aber auch die Menschen um sie herum haben daran einen gehörigen Anteil. Anders als Marta (großartig gespielt von Lilith Stangeberg) gehofft hatte, will ihr verheirateter Partner seine Familie, die er bereits hat, nicht für sie und das Baby aufgeben.
Martas äußerst tough auftretende Mutter (Jeanette Hain) überzieht sie mit Erwartungen und Vorwürfen. Als Mitarbeiterin einer Musikproduktionsfirma fühlt sich Marta zunehmend auf dem Abstellgleis: In dem hippen Büro traut der Hochschwangeren niemand zu, dass sie ihre Aufgaben wuppt.
Alles in allem also keine idealen Voraussetzungen für ein glückliches Debüt als Mutter. Marta entscheidet sich dafür, ihre Tochter zur Adoption freizugeben. Damit steuert das Drama auf eine weitere Eskalationsstufe zu.
Wo der Film in der Luft hängt
So haltlos und unberechenbar wie Martas Leben ist auch dieser Film. Dieser verfolgt auf klassisch-lineare Weise den aufreibenden Gang der Protagonistin durch denkbar krasse Höhen und Tiefen. Unvorhergesehene Wendepunkte und radikale Entäußerungen der Hauptfigur verleihen dem auf Marta fokussierten Blick eine enorme Wucht. Eine als ungeschliffen inszenierte Berliner Großstadtszenerie bietet eine dankbare Kulisse für Martas fiebriges Drängen und Suchen.
Was ihre Interaktion mit anderen Figuren und sonstige Nebenstränge der Erzählung betrifft, bleiben allerdings einiges blass oder kratzt an der Oberfläche. Mit anderen Worten: Hier hängt einiges in der Luft.
Das lässt sich allerdings verschmerzen, wenn man oder frau sich komplett auf Marta und ihre Wahrnehmung der Welt einlässt. Hauptdarstellerin Lilith Stangenberg, die vor Kurzem als unglückliche Alkoholikerin in Matthias Glasners Filmdrama „Sterben“ zu erleben war, beweist erneut, dass es für gebrochene, introvertierte Charaktere mit Hang zu extrovertierten Ausbrüchen in Deutschland derzeit kaum eine bessere Besetzung gibt. Auch für „Haltlos“ absolvierte sie eine schauspielerische Tour de Force.
Dass die Regie bei Kida Khodr Ramadan lag, mag auf den ersten Blick überraschen. Viele verbinden ihn mit der Rolle als Anführer einer kriminellen arabischen Familie in der Fernsehserie „4 Blocks“. Doch schon vor einigen Jahren hat sich der Schauspieler, der gegenwärtig eine Haftstrafe im Offenen Vollzug verbüßt, auch des Regiefachs angenommen. Bereits sein Erstlingswerk „In Berlin wächst kein Orangenbaum“ aus dem Jahr 2020 bot gewisse Parallelen zu „Haltlos“, und zwar durch die Geschichte einer Vater-Tochter-Beziehung. Migrantisch geprägte Milieus, die gemeinhin mit Ramadans Wirken verknüpft werden, kommen in seinem zweiten Kinofilm allerdings nur am Rande vor.
„Vermählung“ von Regisseur und Hauptdarstellerin
Die besondere Chemie zwischen Hauptdarstellerin und Regisseur gab „Haltlos“ sein Gepräge. Der besondere Furor ergibt sich aus dem Zusammenspiel von Stangenbergs intensivem Agieren am Rande des Nervenzusammenbruchs (oder auch mittendrin in einem solchen) und einer schroff-realistischen Erzählweise. „Eigentlich haben wir zusammen Regie gemacht“, sagt Ramadan. Stangenberg erwähnt eine „künstlerische Vermählung“ der beiden.
Der auch in den Nebenrollen mit Jasmin Tabatabai und Thorsten Merten prominent besetzte Film ist nicht als allumfassender Debattenbeitrag zum Thema (ungewollte) Mutterschaft zu betrachten. Vielmehr ist es eine psychologisch angelegte Studie über die Irrungen und Wirrungen einer Frau, die in ebendiese Situation hineinstolpert und um ihre Selbstbestimmung kämpft. Und diese könnte aufwühlender kaum sein.
„Haltlos“ (Deutschland 2024), Regie: Kida Khodr Ramadan, Drehbuch: Antje Schall, mit Lilith Stangenberg, Samuel Schneider, Jeanette Hain, Susana Abdul Majid u.a.
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