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Geschichte

Wie sich der „Vorwärts“ 1933 von seinen Leser*innen verabschiedete

Nach dem Brand des Reichstags im Februar 1933 wurde der „Vorwärts“ von den Nazis verboten. Was die Redaktion bewegte, lässt sich aus einer Mitteilung erahnen, die sie Mitte März an die Leser verschickte – ein beeindruckendes Zeitdokument.
von Olaf Guercke · 16. August 2017
Im Februar 1933 wurde der „Vorwärts“ verboten. Die Redakteure warben mit Prämien um das Vertrauen der Leser.
Im Februar 1933 wurde der „Vorwärts“ verboten. Die Redakteure warben mit Prämien um das Vertrauen der Leser.

Der Korpus des historischen „Vorwärts“ enthält eine Reihe von Ausgaben, welche die Situation zur Zeit ihrer Entstehung auf jeweils besondere Weise spiegeln. Eine davon möchten wir Ihnen heute vorstellen:

Es handelt sich streng genommen nicht um eine reguläre Vorwärts-Ausgabe, sondern um eine Mitteilung an die Leserinnen und Leser der Zeitung, die vermutlich per Post verschickt wurde. Sie ist mit „Berlin, Mitte März 1933“ datiert, entstand also in der kurzen Zeit zwischen dem Brand des Berliner Reichstags am 27.02.1933 und dem Inkrafttreten des nationalsozialistischen Ermächtigungsgesetzes am 24.03.1933. Inhalt dieses Briefs an die Leser ist die Bitte, dem seit dem Reichstagsbrand verbotenen Vorwärts die Treue zu halten und die Abonnements nicht zu kündigen. Man sei, so heißt es, „auf weitere 14 Tage verboten“ und werde daher voraussichtlich „erst am 29. März früh wieder erscheinen“. Als Ersatz für die entgangenen „Vorwärts“-Ausgaben bot man den Leserinnen und Lesern eine Auswahl verschiedener Romane als Treueprämien an. Unterzeichnet ist die Mitteilung mit dem Grußwort „Freiheit!“

Journalisten zwischen Hoffnung und Verzweiflung

Dieses Dokument scheint uns bemerkenswert, da es eine Tatsache vor Augen führt, die eigentlich eine Binsenweisheit ist, jedoch bei der Betrachtung von Geschichte auch von Fachleuten häufig vergessen wird: Die Menschen, die als Protagonisten innerhalb der von uns retrospektiv betrachteten Geschichte gehandelt und gelebt haben, konnten ihre Situation immer nur anhand der Informationen beurteilen, die ihnen in ihrer Gegenwart zur Verfügung standen. Sie wussten nie, wie es am Ende ausgehen würde.

Die Journalisten, die Anfang 1933 den „Vorwärts“ gemacht haben, waren sicherlich verängstigt, schwankten vielleicht zwischen Hoffnung und Verzweiflung, wussten, dass sich die Republik in großer Gefahr befand und ahnten, dass die drohende Diktatur der Nationalsozialisten sehr schlimm werden würde. Es kann vermutet werden, dass einige „Mein Kampf“ gelesen hatten und die meisten sich keinerlei Illusionen über Hitler machten. Man konnte aber nicht die Zukunft sehen und wusste schlicht nicht, inwieweit die Nazis ihre antisemitischen Verwünschungen und ihre Drohungen gegen politische Gegner würden in Politik umsetzten können und ob sie sich tatsächlich gegen die demokratischen Kräfte in der Republik durchsetzen würden.

Der unberechtigte Optimismus der Redaktion

Aus heutiger Sicht scheint es abwegig, dass sich im März 1933 Redakteure einer gerade verbotenen deutschen Zeitung des linken Spektrums Gedanken um Treueprämien als Ersatz für verpasste Ausgaben gemacht haben. Waren diese Leute naiv? Versetzt man sich in die Lage der Redaktion, kann man auch zu dem Schluss kommen, dass es zu diesem Zeitpunkt sicherlich klüger schien, Ruhe zu bewahren und ein positives Zeichen zu setzen, als angesichts der Lage in Panik zu verfallen. Der „Vorwärts“ war bis Ende des Monats verboten und man ging davon aus, dass er anschließend wieder erscheinen würde. Man bewahrte sich, zumindest nach außen hin, einen Rest Optimismus und schrieb dann einen optimistischen Brief an die Leserinnen und Leser. Dass sich dieser Optimismus als unberechtigt herausgestellt hat, nimmt ihm auch von heute aus gesehen nichts von seiner Kraft:

„Trotz allen guten Willens der Gegenleistung bleiben wir uns nach wie vor bewußt, dass unter den gegenwärtigen Umständen die Fortführung des Abonnements einen Akt der Opferwilligkeit und Solidarität darstellt, der hohe Anerkennung verdient. Wir kennen aber unsere Freunde und wissen, daß sie unsere Erwartungen nicht enttäuschen werden.

Freiheit!“

Der „Vorwärts“ blieb seit dem 28.02.1933 im deutschen Reich verboten. Zwischen Juni 1933 und Mai 1940 erschien in Karlsbad und später in Paris die Exilzeitschrift „Neuer Vorwärts“. Ab September 1948 konnte mit dem „Neue Vorwärts“ wieder ein Zentralorgan der SPD in Deutschland erscheinen.

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Die Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung digitalisiert zurzeit alle Ausgaben des „vorwärts“ seit 1876.  Dieser Text erschien zunächst im Blog zum Projekt, wo es weitere Geschichten aus 140 Jahren SPD-Zeitung zu lesen gibt.

Autor*in
Olaf Guercke

ist Mitarbeiter der Bibliothek der Friedrich-Ebert-Stiftung und Projektverantwortlicher für die Digitalisierung des „vorwärts“.

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