Sozialstaat

Stark, fähig oder fair: Welchen Staat wollen wir?

Oliver Czulo20. Oktober 2020
Nicht erst in der Corona-Krise wird der Ruf nach einem „starken Staat“ wieder lauter. Doch was bedeutet das eigentlich? Und wollen wir das wirklich?

Zuletzt war der Ruf nach dem Staat sehr viel deutlicher zu vernehmen als in den vergangenen Jahren. Den Grund dafür machten die Parteivorsitzenden der SPD in einer Email im Vorfeld des 1. Mai wie folgt aus: „Wir sehen deutlich wie selten zuvor, welche Bedeutung ein starker Sozialstaat für die soziale Sicherheit hat“. Oft wird aber nicht nur ein starker Sozialstaat, sondern ganz allgemein ein starker Staat gefordert. Kann das genügen und ist das immer wünschenswert?

Ein starker Staat ist nicht per se ein guter

Der zweite Teil der Frage ist schnell beantwortet: Ein starker Staat ist – allein von der Wortbedeutung her gesehen – nicht per se ein guter, sondern könnte auch einer sein, in dem mit harter Hand regiert wird. Dies kann nur im Sinne Weniger sein. Im jeweiligen Kontext wird zwar klar, was mit einem „starken Staat“ gemeint ist, jedoch ist Umsicht bei der Forderung geboten.

Bleibt noch zu klären, ob allein ein „starker“ Staat den Herausforderungen der Zukunft begegnen kann. Ist es (allein) Stärke, die die Wissenschaft voranbringt, den Markt im Zaum hält oder unsere natürlichen Lebensgrundlagen schützt? Welchen Staat außer dem „starken“ wollen wir noch?

Person und Instrument

Um uns zu vergegenwärtigen, wie wir uns den Staat vorstellen (können), können wir die Arten und Weisen analysieren, wie wir über den Staat sprechen. Beispiele dafür finden wir im Sozialstaatspapier der SPD aus dem Jahr 2019. Diese beziehen sich auf den Sozialstaat, aber ich verallgemeinere sie hier auf den ganzen Staat.

Wenn der Staat genannt wird, wird er häufig personifiziert: wenn etwa von einem „neue[n] Verständnis eines empathischen, unterstützenden und bürgernahen Sozialstaat[]“ die Rede ist. Die Personifizierung kann ein geeignetes Mittel sein, um abstrakte Sachverhalte ‚näher an uns heranzuholen‘: In der hier zitierten Beschreibung erscheint der (Sozial-)Staat als nahbare Person. Das ist ein durchaus sozialdemokratischer Gedanke, denn er tritt nicht etwa als strenger Richter oder milde zu stimmender Herrscher auf.

Eine zweite mögliche Perspektive lässt sich herauslesen, wenn von „der Grundannahme, dass die Menschen den Sozialstaat brauchen und ihn nicht missbrauchen“ gesprochen wird. Hier kann der Staat als Instrument gedeutet werden: Die Menschen können auf den Staat zugreifen, wenn sie Bedarf haben, und können von ihm Gebrauch machen.

Wer formt den Staat?

Das Bild des Staates als Person kann, wie gesagt, einen positiven Effekt haben, da er damit in ein nahbares Licht gerückt werden kann. Jede Analogie hinkt aber irgendwann, was sich daran zeigt, wenn man die Frage stellen würde: Woher kommt diese ‚Person‘? Ist sie einfach ‚erschienen‘, von einer Gottheit eingesetzt? Wie entscheidet sich, ob ‚sie‘ wohlwollend oder abweisend ist?

Die Vorstellung vom ‚Staat als Instrument‘ bietet einen weiteren, wichtigen Blickwinkel: aus der Sicht einzelner Bürger*innen, die z.B. in Notlagen vom Staat Gebrauch machen, oder aber aus der Sicht der Gemeinschaft, die sich dieses Instrument ‚Staat‘ schafft, um für möglichst alle faire Verhältnisse herzustellen.

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Letztere Perspektive ist deshalb wichtig, weil sie betont, wer den Staat formt: Er ist eine Einrichtung von den Menschen für die Menschen. Um wirklich der Allgemeinheit zu dienen, muss ein Staat verschiedene – metaphorisch gesprochene – Eigenschaften haben: Er muss ein Instrument sein, zu dem alle Zugang haben. Daneben muss er dort stark sein, wo er dem Gemeinwohl dient, etwa in der Gesundheit, dem Sozialen oder der Bildung. Stärke allein genügt aber nicht: Der fähige Staat ist mit den nötigen Werkzeugen ausgestattet und setzt diese klug ein. Als fairer Staat nutzt er diese Werkzeuge für den bestmöglichen Ausgleich der Interessen und Verhältnisse. Ein starker Überwachungsstaat hingegen wäre ein missbrauchtes Instrument.

Die sprachliche Betrachtung ersetzt keine Staatstheorie, kann aber ein Licht auf bestehende Vorstellungen und neue mögliche Perspektiven werfen. Wenn die Sozialdemokratie dem lange zurückgedrängten Staat wirklich eine dauerhafte Rückkehr verschaffen will, müssen wir uns viele Gedanken darüber machen, wie er in Zukunft ausgestaltet werden soll, und daneben auch einige, wie wir über ihn sprechen. Dieser erneuerte Staat sollte nicht nur ein an den richtigen Stellen ein starker und fähiger Staat sein: Für die Allgemeinheit ist der faire Staat von großem Interesse.

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