Bei der Planung der diesjährigen ESC-Shows trafen Welten aufeinander: Die Organisatoren (einheimische und eingekaufte im Team) wollten eine moderne und weltoffene Show präsentieren und die vielfältige junge Kunstszene ebenso wie die Traditionen der Ukraine vorstellen. Doch Versuche der Einflussnahme durch Behörden und Ministerien machte, so war auch im Interview mit einem der Show-Produzenten herauszuhören, den Ansatz schwierig.
Anscheinend konnten sich die Reformer letztendlich durchsetzen: In den Semifinale präsentierte die ESC-Ikone Verka Serduchka ihr Heimatland und die Fusion aus Alt und Neu wurde am Donnerstag mit einem Medley aus Eurovisions-Hits im „Ukrainian style“ hergestellt.
Was uns am Samstagabend erwartet, können wir noch nicht verraten – es wird wohl die Vorjahressiegerin Jamala ebenso dabei sein wie die politisch aktive ESC-Siegerin von 2004 Ruslana. Zudem ist die ukrainische Band ONUKA angekündigt, die in ihrer elektronischen Musik auch traditionelle Elemente einbezieht.
Die Finalist*innen
01. Israel: IMRI – I Feel Alive
Wer braucht schon eine perfekte Komposition? Bei diesem umwerfenden Lächeln, der mitreißenden Choreo und der unverschämt offensiv eingesetzten Achselbehaarung freuen wir uns mit IMRI, am Leben zu sein!
02. Polen: Kasia Moś – Flashlight
Freiheit für alle geschundenen Kreaturen – dafür schreit sich die engagierte Tierschützerin die Seele aus dem Leib.
03. Belarus: Naviband – Historiyja majko zyccia
So engagiert sie ihre „Geschichte des Lebens“ singen, rufen und tanzen, so begeistert erzählten die Weißrussen am Roten Teppich von ihren Erlebnissen in Berlin, die sie als die „Stadt der Freiheit“ kennengelernt haben. Pluspunkt: Song in der Landessprache.
04. Österreich: Nathan Trent – Running On Air
Die 25-jährige Tiroler Charme-Offensive gibt uns ganz in Weiß den Mann im Mond und verzückt alle potentiellen Schwiegermütter.
05. Armenien: Artsvik – Fly With Me
Auch wenn er zur Kategorie „Schrei um Dein Leben“ gehört, bietet der Song alles, was Mann aus Armenien erwartet: Feuer, Ethno-Pop, Choreo und schöne Frauen.
06. Niederlande: OG3NE – Lights and Shadows
Nicht nur für die an Krebs erkrankte Mutter singen die drei schwarz glitzernden Schwestern in wunderbar harmonischer Eintracht ihre Weisheit: Das Leben bringt Licht und Schatten!
07. Moldau: Sunstroke Projekt – Hey Mamma
Die perfekte Choreo, Trickkleider und Rhythmus, bei dem mann einfach mit muss – hoch das rechte Bein und los geht´s!
08. Ungarn: Joci Pápai – Origo
Songtexte als Glaubensbekenntnisse machen leicht misstrauisch. Doch der sich selbst als „heimatlandlose“ bezeichnende Rom aus Ungarn wirkt unaufdringlich charismatisch und authentisch. Gegen ein Leben mit Diskriminierungserfahrungen stolz und selbstbewusst zu sagen: „Meine Augen sind braun – und das wird sich nie ändern“ erfordert Kraft und Stütze. Pluspunkt: ein Song in der Landessprache.
09. Italien: Francesco Gabbani – Occidentali´s Karma
Über Wochen der Favorit schlechthin, völlig zu Recht. Das hochintelligente Lied, das uns daran erinnert, dass der Mensch eigentlich nur ein nackter Affe ist und sich dessen immer mal wieder bewusst sein sollte, wird so fröhlich und lebensbejahend vorgetragen, dass alle, wirklich alle, sofort mitsummen und mitmachen: Namasté! Alé!
Pluspunkt: Song in der Landessprache.
10. Dänemark: Anja – Where I Am
Wehe, wir erwischen jemanden, der oder die Anja ins Finale gevotet hat!!! Jetzt müssen wir dieses als Modulation ohne Ende getarnte Schreien nochmal über uns ergehen lassen. Entschuldigung an unsere geliebten dänischen Nachbarn und an alle, die den Song anscheinend besser verstehen als wir, aber wir wünschen uns mal wieder einen ESC ganz ohne sinnbefreite Stimmakrobatik.
11. Portugal: Salvador Sobral – Amor pelos dois
Eine Persönlichkeit mit Attitüde, Salvador Sobral: Für seinen Auftritt wünscht er sich zu Beginn absolute Stille und allen „No Politics @ Eurovision“-Forderungen zum Trotz erinnert der Sänger nach dem Finaleinzug in den Minuten seines Triumphs mit einem Sweatshirt-Aufdruck an das Elend der Flüchtlinge an Europas Grenzen. Beginnt er zu singen, verbreitet sich ein eigentümlicher Zauber. Und natürlich: in der Landessprache!
12. Aserbaidschan: Dihaj – Skeletons
Es steht ein Pferd auf dem Flur, bzw. auf der Leiter. Aserbaidschan ist Meister in der Inszenierung seiner Songs und auch wenn wir nicht wirklich erklären wollen, was das Klassenzimmer und der Pferdekopf mit innerem und äußerem Ich und dem Kampf der Frauen gegen dominante Männer zu tun hat, ist es doch perfektes Theater.
13. Kroatien: Jacques Houdek – My Friend
Bis zuletzt feilte die kroatische Delegation am Konzept: ein Mann – zwei Stimmen. Wie sollten die Kameraschnitte erfolgen? Soll das Publikum sofort sehen, dass es nur ein Sänger ist, der so schnell und problemlos vom Opera-Bariton in den Pop-Countertenor wechselt? Eine Überraschung beim ersten Hören, aber leider dann doch schnell langweilig.
14. Australien: Isaiah – Don´t come easy
Der Junge mit dem scheuen Rehkitz-Blick läuft und läuft und läuft um sein Ziel zu erreichen, Australien wieder in die Top 5 zu bringen. Aber: It don’t come easy!
15. Griechenland: Demy – This Is Love
Vermutlich die zypriotischen Punkte und weitere aus Südeuropa, dazu ein paar Bühnentricks und nackte männliche Haut brachten einen läppischen und einfallslosen Song ins Finale – Töne sind Nebensache!
16. Spanien: Manel Navarro – Do It for Your Lover
Ein blasser Surferboy aus Spanien, der die Sonne und gute Laune transportieren soll. Aufgesetzte Leichtigkeit mit spanienzentrierter Weltkugel und wackelndem VW-Bus. Man soll alles für seine Liebste tun und Spaß haben, Sonne genießen und Urlaub in Spanien machen. Angesichts seiner Versuche, die Stimme zu modulieren sagen wir: Gut, dass es Backing-Vocals gibt. Wir würden unser Badetuch woanders positionieren, wenn Manel in der Nähe singen würde.
17. Norwegen: JOWST – Grab the Moment
Der Mann mit der Maske und das Knuddelbärchen! Die zwei Musik-Nerds bringen den modernsten und aktuellsten Song des ESC-Jahrgangs, der sich so angenehm von vielem Überfrachteten und Überladenem abhebt! Das Leben ist oft schwer – ergreif den Moment, halte inne und gib Dir eine Gönnung Leichtigkeit. Läuft!
18. Großbritannien: Lucie Jones – Never Give Up On You
„Ich werde dich niemals aufgeben“ – kraftvoll singt Lucie Jones und haut uns mit ihrer Stimme einfach um, auch wenn sie in den Proben nicht immer textsicher war. In ihrem Auftritt wird es sehr, sehr, sehr golden, was aber auch passt und schließlich haben wir es hier mit Großbritannien zu tun… Probleme bereitet noch die Spiegelmuschel, deren Auf- und Abbau mehr als die erlaubten 40 Sekunden dauert, das wird für die Bühnenarbeiter ein spannender Kampf mit der Zeit. Ihr Lied wurde von Emmelie der Forest geschrieben, der Siegerin von 2013.
19. Zypern: Hovig – Gravity
Man nehme den schwedischen Erfolgsschreiber Thomas G:son, der einen Cocktail aus erfolgreichen Songs mixt und bediene sich bei zwei Inszenierungen der vergangenen Jahre und alle klatschen begeistert mit.
20. Rumänien: Ilina ft. Alex Florea – Yodel It!
Die Halle bebt, wenn diese beiden Jodelkanonen ihre Botschaft abfeuern: Jodel Dich frei und glücklich – die Welt ist bunt! Spaßig und mitreißend.
21. Deutschland: Levina – Perfect Life
1,81 Meter groß, damit ist Levina die größte Sängerin in diesem Jahr. 2010 wurde sie von Eva Rivas aus Armenien mit 1,93 Meter übertroffen. Das Lied Perfect Life hatte bei den Buchmachern anfangs keinen Erfolg (Rang 32), sich aber während der Proben um etliche Plätze (16. Rang) verbessert und liegt aktuell wieder auf der 20. Position. Levina (26) ist mit großer Leidenschaft und Freude bei der Sache und die Inszenierung ist unaufdringlich und stimmig. Bei aller Kritik am Vorentscheids-Modus: Levina zeigt eine „Perfect Show“ – hätte sie doch nur eine bessere Komposition mitbekommen!
22. Ukraine: O. Torvald – Time
„Betrinke dich und tanze!“ Das ist die Botschaft, die uns die seit 2005 bestehende Rockband O. Torvald mit dem überaus blassem Sänger Jewhen Halytsch mit auf dem Weg gibt. Die einzige Rockband im Wettbewerb wird sich durch dieses Alleinstellungsmerkmal einen vernünftigen Platz sichern. Der riesige Kopf auf der Bühne soll darauf hinweisen, dass sich im Kopf alles abspielt, gute und schlechte Gedanken.
23. Belgien: Blanche – City Lights
Auf der Bühne wirkt sie meist, als hätte man ihr das Pferd weggenommen, sie am Boden festgeklebt und zum Armrudern und Singen gezwungen. Trotzdem hat sie die außergewöhnlichste Stimme und einen der besten Songs – in der Studioversion war sie eine Top-Favoritin und das könnte auch für viele Jury- und Publikumsvotings den Ausschlag geben.
Der Genius hinter Blanche: der Franzose Pierre Dumoulin hat den Song geschrieben.
24. Schweden: Robin Bengtsson – I can´t go on
Solides schwedisches Design bringt selbst einen uncharismatischen Motorcrossfahrer weit nach vorne.
25. Bulgarien: Kristian Kostov – Beautiful Mess
Eine mächtige Stimme, eine starke Bühnenpräsenz und keinerlei Scheu – in letzterem das absolute Gegenteil zur gleichaltrigen Belgierin. Und ein beeindruckendes Liebeslied, das es in die Top 5 schaffen wird.
26. Frankreich: Alma – Requiem
Die 28-jährige Alma begleitet uns bei einem Flug über Paris. Der Eiffelturm verwandelt sich in einen Leuchtturm, der uns die Richtung weist. Die englischen Zeilen im Lied halten wir für völlig deplaziert. Dennoch: Der Song lädt unmittelbar zum Tanzen ein und nach dem großartigen Erfolg von Amir aus dem letzten Jahr scheint die Eurovisionsmüdigkeit der Franzosen ein wenig überwunden zu sein, aber bei einem schlechten Abschneiden Almas wird es kein wirkliches Erwachen geben.
Unser Tipp
Wie 2009 (Alexander Rybak) und 2012 (Loreen) gibt es in diesem Jahr den einen haushohen Favoriten, von dem es monatelang so aussah, als würde kein Weg an ihm vorbei führen: den Italiener Francesco Gabbani, der das San-Remo-Festival gewonnen und dessen Video Youtube mit über 100 Millionen Klicks erobert hat wie kein Eurovisions-Beitrag zuvor. Auch die Buchmacher hatten ihn wochenlang einsam an der Spitze gesehen; keiner glaubte mehr an Spannung im diesjährigen Finale und die Fans haben schon ihre Zimmer vorsorglich in Mailand rsserviert.
Doch in den letzten Tagen kamen Zweifel auf: Den einen ist die Inszenierung Gabbanis in Kiew zu bunt, zu schrill und zu überladen – auch hat er bei seinem Auftritt im ersten Juryfinale erstmals Nerven gezeigt und fand mit seinen Backings keinen echten Gleichklang. Zum anderen sehen viele im Charisma des Portugiesen Salvador Sobral mit seiner nostalgisch unspektakulären Inszenierung und seinem zeitlosen Fado-Beitrag eine ernsthafte Konkurrenz für Italien.
Wir würden keine Wette abgeben, wie das Rennen ausgeht, wünschten uns aber doch, dass es mal wieder ein Titel schafft, der nicht nur beim Live-Auftritt verzaubert, sondern es auch in die Charts und Playlists der Streaming-Dienste schafft. Und dies ist in diesem Rennen Francesco Gabbani.
Unser ganz wilder und keineswegs irgendwie fundierter Tipp für eine Top Ten:
- Italien
- Portugal
- Bulgarien
- Belgien
- Moldawien
- Schweden
- Großbritannien
- Rumänien
- Norwegen
- Israel
Deutschland wird, so leid uns dies für die bezaubernde Levina tut, nach unserer Einschätzung der Stimmung vor Ort und der Unterstützung und Anerkennung in der Halle leider die Negativserie nicht durchbrechen können. Wir tippen auf Platz 20 bis 24, auch wenn wir ihr ein viel besseres Ergebnis wünschen.
Sendetermin
Zu sehen am Samstag, 13. Mai um 21 Uhr im Ersten mit dem Kommentar Peter Urbans, zudem auf ONE als Social TV mit Untertiteln und Audiodeskription, sowie im Livestream auf eurovision.de oder im Originalton im Livestream auf eurovision.tv (Termine).
Zuvor gibt es den traditionellen Countdown von der Reeperbahn um 20:15 Uhr und die Grand-Prix-Party um 00:45 Uhr, moderiert von Barbara Schöneberger, die auch die Punkte für Deutschland verlesen wird. Dort treten Künstlerinnen und Künstler auf, die sich zwar niemals dem Wettbewerb stellen würden, aber doch gerne ihre Platten verkaufen – unter anderem Helene Fischer.
Wer keinen Blog-Beitrag verpassen möchte oder neben den vorwärts-Veröffentlichungen Informationen erhalten möchte, kann uns auf Facebook finden. Eine Registrierung ist hierfür nicht nötig.