Wirtschaftssystem

Kapitalismus, Sozialismus: Begriffe für die Zukunft?

Oliver Czulo27. Dezember 2020
Lange Zeit galten Kapitalismus und Sozialismus als die natürlichen Gegner im Streit der Wirtschaftssysteme. Aber können die beiden für ein zukunftstaugliches Wirtschaften stehen?

Kapitalismus oder Sozialismus: Diese Glaubensentscheidung war eine der zentralen Fragen des 20. Jahrhunderts. Häufig wurden die beiden Begriffe vorrangig als Wirtschaftssysteme diskutiert, auch wenn ganze Menschenbilder und Gesellschaftsentwürfe direkt oder indirekt mit ihnen verknüpft sind. Konnte man in den 1990ern noch der Meinung sein, ein System hätte über das andere „gesiegt“, so ist heute die Debatte über das eine wider das andere wieder lebendig.

Ist für die SPD die Dominanz des einen Begriffs über den anderen in dieser Debatte nun entscheidend? Oder können wir einen neuen, aktualisierten Begriff für ein zukunftsträchtiges Wirtschaften (mit)entwickeln, auf den sich Sozialdemokrat*innen einigen können? Und wenn ja, wie steht dieser zu unserer Vorstellung von Gesellschaft?

Historischer Ballast

Man könnte an dieser Stelle daran erinnern, dass in Kapitalismus ja ‚Kapital‘ stecke und allein schon diese Bezeichnung Verwertungslogiken befördere; ganz Unrecht hätte man wohl nicht. Analog könnte man darauf verweisen, dass in Sozialismus ja das „Soziale“ stecke, was das Gemeinschaftliche in den Mittelpunkt rücke; ganz Unrecht hätte man auch damit nicht.

Bei dieser Art der Argumentation übersieht man aber einen wichtigen Aspekt: Bedeutung richtet sich nicht nach ein für alle Mal festgesetzten Lexikondefinitionen. Begriffe durchlaufen Entwicklungen, sie können historisch aufgeladen werden und werden mit diesem (und anderem) Hintergrundwissen interpretiert. Wie sehr etwa selbsternannte „realsozialistische“ Länder gemeinschaftlich organisiert waren, darüber lässt sich vortrefflich streiten. Der Einwand, dass historische Fehlentwicklungen nicht einer Definition dessen entsprächen, was mit Sozialismus eigentlich gemeint sei, hebt das Wissen um diese Geschichte und die daraus genährte Skepsis oder Ablehnung nicht einfach auf.

Entstauben oder wiederbeleben?

Man kann daher ein Fragezeichen daran setzen, ob es gelingen kann, einen Begriff wie Sozialismus, auch durch Zusätze wie „demokratisch“, in der nächsten Zukunft in der breiten Wahrnehmung wieder aufzuwerten. Eine andere Kandidatin, die immer wieder genannt wird, wenn es um einen Wirtschaftsbegriff geht, auf den sich Sozialdemokrat*innen einigen könnten, ist die (soziale) Marktwirtschaft.

Relative Häufigkeit des Vorkommens von "Marktwirtschaft" im Zeitungskorpus des DWDS in der Zeit direkt nach dem zweiten Weltkrieg bis heute
Relative Häufigkeit des Vorkommens von "Marktwirtschaft" im Zeitungskorpus des DWDS in der Zeit direkt nach dem zweiten Weltkrieg bis heute

Ihre begriffliche Hochkonjunktur hat die Marktwirtschaft laut den Daten des Digitalen Wörterbuchs der Deutschen Sprache aus dessen Sammlung von Presseerzeugnissen seit 1945 eher hinter sich (offenbar liegt sie rund um die Wendejahre). Auch wenn man nicht unbedingt von einer historischen Vorbelastung des Begriffs sprechen kann, darf man hinterfragen, wie groß das Vertrauen in den darin verankerten Markt und seine „selbstregulierenden Kräfte“ heute noch sein kann, und wie sehr man ihn daher in Zukunft weiter in den Vordergrund rücken will.

Neue Wege statt alter Pfade

Eine dritte Strategie wäre, über einen neuen Begriff eine eigene öffentliche Deutung davon zu erlangen, wie ein zukünftiges Wirtschaften aussehen soll. Ich versuche, dies an einem nicht exklusiv gemeinten Beispiel aufzuzeigen: Eine Kandidatin wäre die noch vergleichsweise junge und innerhalb der SPD bereits verschiedentlich diskutierte Idee der Gemeinwohl-Ökonomie die man gelegentlich mit dem Zusatz „nachhaltige“ erweitern könnte, um deutlich hervorzuheben, dass auch Umweltschutz eine Gemeinwohlaufgabe ist. Dargestellt als eine andere Art des Wirtschaftens, anstatt eines abstrakten Wirtschaftssystems, rückt die Gemeinwohl-Ökonomie zudem näher an die Menschen: Gemeinwohl-Ökonomie hängt damit vom Handeln der Einzelnen und gesellschaftlicher Gruppen ab. Ihnen werden Gestaltungsmacht und Verantwortung dafür mitgegeben.

Eine Alternative zum heute dominierenden Wirtschaftssystem muss in jedem Fall eine grundlegende Bedingung erfüllen: Sie muss sich als Form des Wirtschaftens in eine solidarische Gesellschaft einordnen und darf nicht als entkoppeltes oder gar die Verhältnisse bestimmendes System ‚neben‘ der Gesellschaft stehen. Eine Debatte um solche Alternativen entscheidend mitzuprägen, kann ein lohnendes strategisches Ziel sein: Auf die, mit denen ein positiv besetzter neuer Begriff des Wirtschaftens stark verknüpft ist, strahlt diese positive Bewertung mit aus.

Mit klaren Inhalten arbeiten

Die strategischen Überlegungen in diesem Beitrag sind jedoch kein Selbstzweck: Wer mit Begriffen arbeiten will, muss sie mit Leben füllen. Die (auch) in der SPD schon angestoßene Debatte um die Zukunft des Wirtschaftens muss weitergeführt, und, damit sie Wirkung entfalten kann, weiter nach außen getragen werden. Das meint nicht nur die Begriffsarbeit an sich, sondern den überzeugenden Einsatz für ein neues Wirtschaften, das nicht auf der rücksichtslosen Ausbeutung natürlicher Ressourcen aufbaut und von dem nicht nur Wenige profitieren. Die jüngsten programmatischen Entwicklungen in der SPD machen darauf Hoffnung.

weiterführender Artikel

Kommentare

Glaubensentscheidung Kapitalismus oder Sozialismus

Kapitalismus oder Sozialismus sind keine Glaubensentscheidungen, sondern Denkschulen, Philosophien, Gesellschafts-, Wirtschafts-, Politikwissenschaften, die selbstverständlich weiterhin begrifflich beibehalten werden sollten, um Gegensätze, Unterschiede, eventuelle (partielle) Symbiosen, Synthesen, Parallelen genau herauszuarbeiten und darzustellen.

Eine begriffliche "Wohlfühlsoße", in der sich ALLE irgendwo wiederfinden können, sollte aus guten inhaltlichen Gründen unterbleiben!

Sie wollen einen aktualisierten Begriff. Ich gebe Ihnen einen:

'Demokratischer, Ökologischer Sozialismus'.

Die dem Kapitalismus wesensmäßig sklavisch innewohnenden Zwänge:
Konkurrenz/Standortlogik/Wettbewerbsfähigkeit, (exponentielles) Wachstum/Wachstumsimperativ, Gewinnmaximierung, Kapitalakkumulation, Ausbeutung/Überausbeutung der menschlichen Arbeitskraft, zügelloser Natur-/Umwelt-/Ressourcenverbrauch, exorbitante Schadstoffemissionen bzw. Überlastung der Schadstoffaufnahmesenken, Unmöglichkeit der absoluten Entkoppelung von Wirtschaftswachstum und Ressourcenverbrauch - sind absolut nicht geeignet für zukunftsfähiges Wirtschaften.

Suchen wir also nicht nach "bequemen" Begriffen.

Re: Glaubensentscheidung Kapitalismus oder Sozialismus

Es geht nicht um einen "bequemen" Begriff, sondern um den Vorschlag, einen aktualisierten zu entwickeln, hinter dem sich doch ein Großteil der Sozialdemokratie versammeln kann. Allein schon der Weg dahin wird wahrscheinlich kein bequemer sein. Das befreit niemanden innerhalb der Sozialdemokratie davon, über die Inhalte zu debattieren, und es wird noch genug Bedarf geben, auch nach außen für diese Inhalte zu streiten. Dieser Text hier sagt vor allem: Gebt der neuen Idee einen Namen, damit wir darüber treffsicherer sprechen können, und da diskutiere ich Alternativen, die ja nicht leere Hüllen sind, sondern Inhalte transportieren.

Was Denkschulen, Philosophien etc. angeht: Darüber mache ich mir hier (bewusst) keine Gedanken, ich bewege mich eher auf der Ebene eines Alltagsverständnisses.

Glaubensentscheidung

Es gibt zahllose 'neue Ideen' - und das ist gut so! Ich zähle hier nur ganz wenige auf: Neosozialismus, Ökosozialismus, Donut-Ökonomie, Marktsozialismus, Sozialistische Marktwirtschaft, Gemeinwohlökonomie, Solidarische Wirtschaft, Sozial-ökologische Transformation. Eine Menge Leute machen sich sehr viele gute Gedanken! Gleichwohl - um die Definitions-Bedeutungsprüfsteine 'Kapitalismus vs. Sozialismus' kommen alle diese zu begrüßenden Ideen nicht herum. Alle diese 'neuen Ideen', die eigentlich lediglich aktualisierte Basisideen sind, werden darlegen müssen, wie sie sich zum Wachstumsimperativ des Kapitalismus, zur menschlichen Ausbeutung/Überausbeutung, zum Ressourcenverbrauch in einer endlichen Welt, zur Überlastung der Schadstoffaufnahmesysteme etc. verhalten. Erlauben Sie mir eine kleine Kritik zu Ihrem letzten Satz in Ihrer Kommentierung: "Ebene des Alltagsverständnisses". Das Alltagsverständnis ist sehr wichtig! Gleichwohl muss es sich zurückführen lassen auf richtige, fundiere Theoriearbeit. Als 1953 Geborener würde ich es deshalb besser finden, dass Intellektuelle/theoretisch Geschulte die wichtigen Theorien ins Alltagsverständnis übersetzen. Das ist unerlässlich.

Neue Worthülsen lösen nichts

Ob man nun die alten Begriffe benutzt oder neue Wörter erfindet, solange das aktuelle Gesellschaftliche "Verteilungssystem" vollkommen aus der Spur läuft weil das Universaltauschmittel schon durch "erfundenes", Gegenwertloses Geld das einseitig akkumuliert wird permanente Last- und Machtverschiebungen zementiert ist die Schaffung neuer Begrifflichkeiten irrelevant.

Man kann die aktuellen Mißstände und Fehlstellungen auch direkt benennen, ohne gleich metaphysisch in irgendwelche Pseudobenamsungen des dann doch "unter der Haube" gleich bleibenden faschistoid-kapitalistischen Feudalismussystems, das Menschen zu Gebrauchsgütern und Funktionsgegenständen abwertet abzugleiten.

Wie ein Gesellschaftssystem letzten Endes genannt wird, ist irrelevant. Wie es funktioniert und wo es Korrekturbedarf aufweist, wie diese Korrekturen durchgeführt werden und ob die Ergebnisse eine Verbesserung darstellen, darauf allein kommt es an.

Wir erleben doch gerade in Corona-Zeiten wie sehr Begrifflichkeiten umgedeutet oder anderweitig manipulativ verzerrt werden. Warum also den Gegnern jeder Verbesserung überhaupt eine Zielscheibe erschaffen ?
Diese Energie sollte man besser ins Handeln stecken.

Verstoß gegen Netiquette

Der Kommentar wurde gelöscht, da er gegen Punkt 5 unserer Netiquette verstieß.

https://www.vorwaerts.de/seite/netiquette

Artikel von Oliver Czulo

Sehr geehrter Herr Czulo,
die analytische Kraft beider Begriffe wird erhalten bleiben müssen. Als Gesellschaftsmodelle allerdings sind beide Begriffe nicht mehr tragfähig, da beide Ansätze strukturelle Grenzen haben. Der Kapitalismus fährt den Planeten mit Notwendigkeit vor die ökologische Wand. Der Sozialismus als Humanismus hingegen, kann das Eigenrecht des nichtmenschlich Anderen nicht begründen.
Das von mir entwickelte Modell des Ökologischen Humanismus bietet einen völlig neuartigen Ansatz.
Es verbindet einen staatlichen Monopolkapitalismus im Infrastrukturbereich mit einer sozialen, ökologischen und freien Marktwirtschaft für alle anderen Wirtschaftsbereiche. Politische Basis ist eine repräsentative Demokratie mit 6 Staatsgewalten und Elementen direkter Demokratie. Leitidee ist die materielle Umsetzung der Menschenwürde und der Lebenswürde auf dem gesamten Planeten.
Auf der Basis einer ökologischen Energieüberschusswirtschaft kann der Ökologische Humanismus den ganzen Planeten mit heutiger Technologie in ein relatives Paradies für alles menschliche und nichtmenschliche Leben transformieren und das Problem des Klimawandels lösen bei gleichzeitigem Wirtschaftswachstum.