Am Sonntag wurden in New York die Grammys verliehen. Sie sind so etwas wie die Oscars der Musikbranche, sprich: prestigeträchtig und heiß begehrt. Als die Grammy-Nominierungen im November verkündet wurden, schienen sie überraschend progressiv: In der Kategorie „Album des Jahres“ war kein einziger weißer Mann nominiert, dafür Künstler wie Kendrick Lamar, Bruno Mars. Newcomerin SZA erhielt gleich fünf Nominierungen für ihr Debütalbum CTRL und mit dem Sommerhit Despacito bestand die Chance, dass zum ersten Mal ein spanischsprachiges Lied „Song des Jahres“ wird.
Ganz in Weiß
Tatsächlich machten die diesjährigen Grammys aus der Ferne betrachtet einen guten Eindruck. Auf dem roten Teppich tummelten sich Stars mit weißen Rosen, die so ihre Solidarität mit der Initiative gegen sexuelle Belästigung „Time’s Up“ zeigten.
Während der Show trat Sängerin Kesha auf, die ihren ehemaligen Produzenten wegen sexuellen Missbrauchs verklagte und daraufhin einen zermürbenden Rechtsstreit durchstand, bevor sie von ihrer Plattenfirma endlich aus dem bestehenden Vertrag entlassen wurde. Ganz in Weiß sang Kesha bei den Grammys ihren Song „Praying“ und wurde dabei von einer Reihe weiblicher Stars, unter anderem Cyndi Lauper, begleitet. Es war der emotionale Höhepunkt der Veranstaltung, das Symbol für #MeToo. Die Musikindustrie gab sich emanzipiert, betroffen, bereit für Veränderungen.
Wenig überraschend
Doch aus der Nähe betrachtet ist die Bilanz der Grammys 2018 ernüchternd. Die fünffach nominierte SZA konnte keinen einzigen Award mit nach Hause nehmen und verlor in einer der Kategorien („Beste Pop-Solodarbietung“) auch noch gegen den einzigen nominierten Mann, Ed Sheeran. Lorde, die als einzige Frau überhaupt in der Kategorie „Album des Jahres“ nominiert war (und gegen Bruno Mars verlor), bekam während der Show noch nicht einmal einen Solo-Auftritt. Keine einzige Frau gewann in einer der als am wichtigsten geltenden Kategorien, in denen der beste Song, das beste Album, die beste Platte oder das beste Popalbum ausgezeichnet werden.
Lediglich in der Kategorie „Bester neuer Künstler“ gewann die Kanadierin Alessia Cara. Überraschend ist das alles leider nicht: Ein aktueller Bericht der Annenberg Inclusion Initiative an der University of Southern California zeigt, dass nur neun Prozent der 899 Nominierten bei den letzten sechs Grammy-Verleihungen Frauen waren.
Zeit, dass sich was ändert
Hinzu kommt, dass die Zusammensetzung der Recording Academy, die die Grammys vergibt, nicht bekannt ist. Man weiß nicht, welches Geschlecht die Academy-Mitglieder haben, wie alt sie sind, welche Hautfarbe sie haben. Der Verdacht liegt nah, dass die Recording Academy ein ähnliches Diversitätsproblem hat wie lange Zeit die Academy of Motion Picture Arts and Science, welche die Oscars vergibt. Letztere hat in den letzten Jahren tiefgreifende Reformen durchgeführt, ist vielfältiger geworden.
Solche Reformen hätte vermutlich auch die Recording Academy nötig. Vielleicht hätte dann auch ein spanischsprachiges Lied eine wirkliche Chance, bei den Grammys abzuräumen? Vielleicht wären Frauen dann endlich mal nicht nur nominiert, sondern auch Siegerinnen? Vielleicht würden schwarze Künstlerinnen und Künstler wie Beyoncé oder Kendrick Lamar in den wichtigen Kategorien wie „Album des Jahres“ gewinnen? Vielleicht würde tatsächlich mal ein Rap-Album zum „Album des Jahres“ gekürt? Vielleicht.
Konsternierte Reaktionen
Bisher allerdings sieht es nicht so aus, als würde sich etwas ändern. Der Präsident der Recording Academy, Neil Portnow, sagte, es sei an den Frauen „vorzutreten“, wenn sie in der Musikindustrie repräsentiert sein wollten. Diese Aussage hat er – nach konsternierten Reaktionen – mittlerweile zurückgenommen und betont nun, Frauen ständen in der Musikbranche vor ganz anderen Hindernissen als Männer. Es gehe nun darum, diese Hindernisse abzubauen. Na dann, an die Arbeit!