Energiewende: Geht es nur radikal dezentral?

Felix Wagner02. Mai 2020
Wie kann die Energiewende gelingen? Diese Frage beschäftigt Politik und Gesellschaft nicht erst seit dem Reaktorunglück von Fukushima. In einem Buch gibt der frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Axel Berg radikale Antworten.

Der Corona-Shutdown setzt viel aufs Spiel. Zu den wenigen Chancen der aktuellen Situation gehört es, dass wir Zeit haben, uns neu zu ordnen – auch in unserer politischen Programmatik: Für den Bereich der sozial-ökologischen Transformation bietet Axel Bergs im vergangenen Jahr erschienenes Buch „Energiewende einfach durchsetzen“ eine der besten Diskussionsgrundlagen dafür.

Es ist ein kämpferisches, sehr praktisches Plädoyer dafür, dass eine schnelle, sozialdemokratische Energiewende nur dezentral gelingt. Indem möglichst viele vor Ort in die Lage versetzt werden, ihre eigene Energie gemeinschaftlich und kostengünstig zu produzieren. Großstrukturen mit vier Energieriesen, gigantischen Offshore-Windprojekten und Großnetzen hätten historisch ausgedient.

Das EEG als Vorbild für eine gelingende Energiewende

Berg selbst, Vorsitzender der deutschen Sektion von Eurosolar, ist energiepolitisch ein Scheer-Schüler: Als jüngerer SPD-Bundesabgeordneter für München (1998 bis 2009) war er ein Anhänger und Intimus des sozialdemokratisches „Solarpapstes“ und alternativen Nobelpreisträgers Hermann Scheer, der 2010 starb – zum Leidwesen der sozialdemokratischen Energie- und Klimapolitik.

Axel Berg Energiewende

Scheer war der Dreh- und Angelpunkt für das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) von 2001, das wesentlich von den sozialdemokratischen „Makroökologe*innen“, wie Scheer sie nannte, geprägt worden war: einem damals relevanten Netzwerk sozialdemokratischer Politiker*innen von Hermann Scheer über Prof. Ernst-Ulrich von Weizäcker, Monika Griefhahn, Willy Leonhardt, Klaus Traube, Dietmar Schütz, unter vielen Weiteren sicherlich auch Erhard Eppler – und damals schon Axel Berg.

Die „Makroökolog*innen“ verband, dass sie – mit ihrem politischen Blick von oben – die Energiewende als sozial-ökologisches Projekt zur Überwindung des kapitalistisch-atomar-fossilen Zeitalters und seiner u.a. neokolonialen Machtstrukturen sahen. Der Erhalt und die Förderung von Umwelt, Artenvielfalt und massive Reduktionen der Treibhausgasemissionen waren für sie „Kollateralgewinne“ (Scheer) – während klassische Umweltschützer*innen und Grüne („Mikroökolog*innen“) in Klima- und Naturschutz das alleinige Ziel sahen, ohne dies gesellschaftstheoretisch einzubetten.

Schwarz-Gelb hebelte das EEG aus

Wer vor diesem Hintergrund Axel Bergs Buch liest, wird es politisch noch besser einordnen können. Denn Bergs zentrale Forderungen schließen genau dort an, wo der prägende Einfluss der SPD-Makroökolog*innen sein Ende findet: Es waren die Zeiten von Hermann Scheers leicht resignativem Rückzug aus dem SPD-Parteivorstand (2009) und seinem einschneidenden Tod (2010), als die Leitprinzipen des EEG gebrochen wurden.

Dieses Gesetz hatte ab 2001 mit garantierten Einspeisevergütungen dafür gesorgt, dass in einer gesellschaftlichen Breite ein großer Anreiz bestand, Solar- und Windenergie aufzubauen – oder in diesem Bereich unternehmerisch tätig zu werden. Vor allem mit der schwarz-gelben Regierung (2009 bis 2013) ist das EEG-Prinzip Schritt für Schritt ausgehebelt worden. Statt der strukturbrechenden garantierten Einspeisevergütung sollten jetzt Quotenregelungen die Energiewende steuern – mit dem Argument, dass der Energiemarkt dem „wildwüchsigen“ Wachstum Erneuerbarer Energien ansonsten nicht gewachsen wäre.

Ein Strukturbruch des Kapitalismus?

Für Berg machte die bis dahin erfolgreiche Energiewende eine schwere Bauchlandung: „Einspeisegesetze [wie das EEG, F.E.] sind umwälzende Gesetze, die Teilhabe von vielen Akteuren – mittelständischen Unternehmen, Kommunen, Bürgern – ermöglichen. Eine zentralistische Zuteilung von Erneuerbarenanlagen über Quoten, Ausschreibungen oder Auktionierungen konserviert hingegen die Marktmacht der etablierten Energiekonzerne.“

Bergs Buch macht deshalb einen Parforceritt durch unsere gesamte Energiestruktur. Und seine praktischen Reformvorschläge für den Energie- und Wärmemarkt, die Landwirtschaft oder die Förderung Erneuerbarer Energien ergeben eine in sich stimmige Roadmap, um die Energiewende schon in den nächsten zehn Jahren zu realisieren. Mit seinem sehr griffigen „Grundgesetz der Energiewende“ vertritt er, dass alle (und nur diese!) Maßnahmen die Energiewende sinnvoll befördern, die 1. zum direkten Aufbau Erneuerbarer Energien beitragen, 2. dezentral erfolgen und damit Strukturen brechen und 3. schnell wirken.

Sein Optimismus, dass eine sozialdemokratische Energiewende doch noch sehr schnell gelingt, rührt aber aus einem makroökologischen, fast marxistischen Argument: Exponentieller Fortschritt erneuerbarer Energien (höhere Leistungsfähigkeit, weiter fallende Preise) und die voranschreitende Digitalisierung (v.a. durch das „Internet der Dinge“ für Kommunikation, Logistik und Energie) führten folgerichtig zu größeren Strukturbrüchen. Frei nach Karl Marx hieße das: Die Produktivkräfte (neue menschliche Arbeitsweisen und/durch Technologien) wachsen über die Produktionsverhältnisse (den gegenwärtigen Kapitalismus) hinaus.

Der digitale Finanzmarktkapitalismus behindert Energiewende

Soweit, so gut, so optimistisch. Bei allen guten und konkreten Reformvorschlägen bleibt jedoch sehr fraglich, ob die gegenwärtige digitale Formation des Finanzmarktkapitalismus wirklich schon „seine eigenen Ketten sprengt“ (wie es Marx zur Überwindung des Kapitalismus als notwendig ansah) und keine Monopole mehr begünstigt. Die hohen, an Aktienmärkten gehandelten Mengen an Risikokapital, mit denen neue Riesen bzw. Oligopole herangezüchtet wurden und werden – Google, Amazon, aber auch Tesla oder sogar SAP fallen in diese Kategorie – sprechen bisher nicht dafür: Dezentralität scheint noch nicht, wie Berg und andere es zu glauben wagen, strukturell begünstigt zu werden. Darüber hinaus stünde zur Debatte, inwieweit dezentrale Strukturen auch soziale Errungenschaften auf die Probe stellen (z.B. betriebliche Mitbestimmung und Tarifverträge).

Dennoch ist Bergs Energiewende-Roadmap für die Sozialdemokratie eine wichtige konkrete Utopie: Denn im Kern stellt sie, wie schon Karl Marx, die Eigentumsfrage. Für Berg ist es nicht länger folgerichtig, dass die Mehrheit der Menschen dem mächtigen Großkapital in abhängiger Konsumentenrolle gegenüber steht. Schon nach Marx sollten alle Menschen zu ‚positiv vergesellschafteten Individuen‘ werden. Bei Berg sind es Mieter*innen wie Eigenheimbesitzer*innen, die endlich als (Energie-)Prosument*innen mit „Gleichgesinnten zusammenarbeiten“ sollten: Ob durch Solarkraftwerke auf Dächern von Eigentümergemeinschaften, günstige Solar-Balkonkraftwerke in Mietswohnungen und durch regionalen Stadtwerken, die überall bereit stünden, um energetisch sinnvolle Investitionen mit den Menschen zu realisieren (z.B. durch Contracting-Modelle).

Schon 30 Prozent der Dachflächen einer Stadt wie Frankfurt am Main würden ausreichen, um diese vollständig mit Strom zu versorgen, Industrie inklusive. Gerade vor den Kommunalwahlen in Nordrhein-Westfalen bestünde darin eine ganz praktische sozialdemokratische Forderung: Warum nicht jetzt den Rahmen dafür schaffen, dass kommunale Stadtwerke die Bewohner*innen auf dem ganzen Stadtgebiet dazu befähigen, sich durch Erneuerbare-Energien-Projekte gemeinschaftlich selbst zu versorgen?

Axel Berg: Energiewende einfach durchsetzen,  oekom-Verlag 2019, ISBN 978-3962381301, 24 Euro
Das Buch kann hier in der vorwärts-Buchhandlung bestellt werden.

weiterführender Artikel

Kommentare

Der Beitrag weckt bei mir

Der Beitrag weckt bei mir Interesse und Zweifel an Axel Bergs Buch zugleich. In meiner Gemeinde decken wir bereits 100% des Strombedarf regenerativ, rechnerisch. Bundesweit werden (2018) zur Zeit rd. 13% des Primärenergiebedarfs regenerativ gedeckt. Davon rund die Hälfte durch Biomasse. Photovoltaik deckt 1,1%, Wind 3% unseres gesamten Energiebedarfs. In 10 Jahren auf 100% zu kommen, dezentral bei weiter steigendem Energiebedarf, erscheint mir, anders als Axel, nicht denkbar.
Ein Grund meines Zweifels findet sich im EROI. Dieser zeigt, wieviel Energieeinsatz benötigt wird, um eine Einheit Energie zu erzeugen. Aus einer Einheit Energie erzeugt ein Laufwasserkraftwerk etwa 50, ein Kohlekraftwerk 30, ein Windkraftwerk an der Küste 20, eine Solarthermieanlage in der Wüste 21, eine PV-Anlage in Deutschland ohne Speicher 4, mit Speicher 2 und eine Biogasanlage 4 Einheiten Energie.
Zweifel sind kein Urteil, ich werde das Buch lesen.
Zurück zu meiner Kommune und dem Corona-Shutdown. Im Handumdrehen konnte der Flugverkehr um 95% reduziert werden. 5667 to CO2 im Jahr erzeugten die 5000 Bürger meiner Gemeinde per Pkw-Verkehr, 8665 durch Flüge. Davon sind 8231 to. gerade entfallen.