„Die Digitalisierung unseres Alltags schreitet immer weiter voran – mit fatalen Auswirkungen“, warnt der Klappentext auf dem Buch. Es heißt „Cyberkrank!“ und beschreibt ausführlich, „wie das digitale Leben unsere Gesundheit ruiniert“. Und der Autor meint es ernst: Am liebsten möchte er alle Kinder von den Smartphones und Computern verbannen. Ansonsten prophezeit er fürchterliche Folgen.
Das Buch ist nicht von irgendwem, sondern von Manfred Spitzer, ärztlicher Direktor der Psychatrischen Universitätsklinik in Ulm und umtriebiger Publizist. Und seine Bücher sind keine Ladenhüter, sondern stehen auf Spiegel-Bestsellerlisten. Spitzer gehört zur intellektuellen Elite unserer Republik und prägt die Debatte um Digitalisierung wie kaum ein anderer.
Über digitale Demenz, Internetsucht und ADHS
Bereits 2012 schöpfte er den Begriff „Digitale Demenz“, der seither als geflügeltes Wort die Diskussionen in Deutschland bestimmt. In seiner gleichnamigen Kampfschrift erläutert er ausführlich, wie wir uns das Hirn wegklicken. Internet ist eigentlich wie Fernsehen, nur schlimmer. Wer das anzweifle, sei entweder unwissend oder verlogen. Sein ärztlicher Rat: „Meiden Sie digitale Medien. Sie machen dick, dumm, aggressiv, einsam, krank und unglücklich.“ Uns allen drohen Internetsucht und ADHS, mit der Folge totaler Verblödung und kulturell-sozial-geistigen Verfalls.
Einziger Ausweg: zurück zu Büchern und Bleistiften! Als Medienhasser oder Technikfeind aber, so versichert Spitzer, möchte er nicht missverstanden werden. Den Kindern ihre Laptops und Smartphones wegnehmen müsse man aber trotzdem, um sie vor dem Schlimmsten zu behüten. Endlich spricht da mal einer aus, was alle schon instinktiv wussten: Wir haben noch richtige Bücher gelesen, doch unsere Kinder verblöden wegen diesem neumodischen Technikkrams. Das wird man doch noch sagen dürfen!
Handys gefährlicher als Zigaretten
Im Handelsblatt durfte Spitzer erklären, die Digitalisieurng führe zu Gesundheitsschäden „von Depressionen bis zu Suchtsymptomen und von Schlaflosigkeit über Bluthochdruck bis zu Krebs“. Doch dabei blieb es nicht. Allen Ernstes behauptete er sogar, das Internet erhöhe „zwangsläufig die Wahrscheinlichkeit einer Krebserkrankung“ und sei damit tödlicher als Rauchen: „Nach der Auswertung von Hunderten neuer Studien sage ich Ihnen: Die Folgen der Digitalära sind weit schlimmer für die Menschheit, als es Nikotin je war. Schon jetzt sind global 4,5 Milliarden Smartphones verkauft. Wir reden von der Weltbevölkerung! Natürlich stirbt niemand unmittelbar wegen seines Handys, aber es fällt ja auch niemand mit der Zigarette in der Hand und Krebs in der Lunge um!“ Die Weltgesundheitsorganisation ist zwar anderer Ansicht, aber das stört den Professor aus Ulm natürlich keineswegs. Mit wissenschaftlicher Evidenz hat Spitzer ohnehin so manche Berührungsängste.
Es lohnt ein Blick zurück: Schon 2005, als das Internet noch nicht für Horrorszenarien sorgte, warne Spitzer in seiner Streitschrift „Vorsicht Bildschirm“ vor einem anderen schreckensbringendem Medium: dem Fernsehen. Fernsehen, so warnte er, mache „dick, dumm und gewalttätig“ und sei eine Katastrophe für „Gehirnentwicklung, Gesundheit und Gesellschaft“. Nachdem schon das Fernsehen nicht den Untergang des Abendlandes bewirkt hat, muss nun das Internet die Büßerrolle übernehmen.
Tausend Statistiken, wirre Thesen
Mit seinem Gepolter klingt der Professor wie ein alter Mann, der die Welt um ihn nicht mehr versteht. Manfred Spitzer ist der Thilo Sarrazin der Hirnforschung: tausend Statistiken, wirre Thesen. Doch genau damit steht er für den Mainstream in der intellektuellen Elite unseres Landes, genau damit prägt er die Debatte. Das Versagen der intellektuellen Elite trägt Mitverantwortung dafür, dass Deutschland bei so ziemlich allen Parametern der Digitalisierung bestenfalls im hinteren Mittelfeld rangiert.
Klar: Auch über die Risiken und Ambivalenzen des digitalen Wandels lohnt es sich zu streiten – aber kulturpessimistische Untergangsszenarien vergiften jede differenzierte Debatte. Man muss ja nicht alles gut finden am Internet-Zeitalter. Kaum ein technologischer Wandel kommt ohne Schattenseiten. Aber bei aller Lust am Risiko-Diskurs täten wir auch einmal gut daran, über die Chancen und die Sonnenseiten zu sprechen.