Bericht aus London

Der Brexit – die zur Routine gewordene Ungewissheit

SPD-Freundeskreis London23. Oktober 2019
International ist der Brexit seit Monaten Gesprächsthema. Welche Rolle aber spielt er im Leben der Menschen in Großbritannien? Eine deutsche Master-Studentin in London beschreibt, wie das Leben in der universitären Blase ihren Blick auf den Brexit verändert hat.

Die Erinnerungen an den Morgen des 24. Juni 2016 sind noch wach. Der Blick auf die erste Schlagzeile in der Nachrichten-App und eine Mischung aus Unglaube, Verwirrung, Trauer und Wut. Ich erinnere mich an den Gedanken, dass der für mich natürliche Glaube an ein vereintes Europa plötzlich nicht mehr so selbstverständlich sein könnte. Seitdem habe ich mich stets über den Verlauf der Austrittsverhandlungen informiert und mitgefiebert — bis ich im September nach London zog.

Im Elfenbeinturm den Brexit vergessen



Statt im Mittelpunkt des Geschehens befinde ich mich in einer kosmopolitischen Blase, weit weg von den Problemen der britischen Innenpolitik. Als internationale Studierende gehöre ich zu den Menschen, die Theresa May „citizens of the world and of nowhere“ (Bürger der Welt und des Nirgendwo) nennt. Ich studiere in London, das ist gefühlt sehr weit weg von England oder Großbritannien. Unter meinen Kommiliton*innen und Professor*innen sind alle gegen den Brexit, für andere Meinungen gibt es an der Uni keinen Raum. In diesem internationalen, homogenen, gemütlichen Elfenbeinturm ist es unfassbar einfach, den Brexit zu vergessen. Würde ich nicht täglich Nachrichten lesen, würde ich vom bevorstehenden Austritt Großbritanniens aus der EU nichts mitbekommen.



Im Gegensatz zu anderen Genoss*innen verspüre ich keine Angst, eine Art illegale Einwanderin zu werden“. Als mich letztens eine deutsche Freundin, die in Glasgow studiert, fragte, ob ich für den Fall eines ungeregelten Brexit besondere Vorkehrungen getroffen hätte, kam mir die Vorstellung absurd vor. Ich bin doch Studentin — wer sollte mich schon rauswerfen wollen? Prompt kam eine E-Mail von der Universität. Sollte man über die Semesterferien das Land verlassen und es zu einem ungeregelten Brexit kommen: kein Grund zur Panik, alles wie gehabt. Nur für den Fall der Fälle war eine Immatrikulationsbescheinigung angehängt.



Der Brexit als Studienobjekt

Stattdessen fungiert der Brexit in meinen Kursen als abstraktes, jederzeit anwendbares Fallbeispiel. In meinem Studium der Internationalen Beziehungen nutzen wir den Brexit, um Theorien der Außenpolitik anzuwenden. Der Brexit wird so zu einem abgeschlossenen, historischen Ereignis, wie der Irak-Krieg oder die Kubakrise. Dies erscheint zunehmend als verzweifelter Versuch der Professor*innen, die aktuelle Situation doch noch erklärbar, nachvollziehbar - sogar lösbar zu machen, während man im Alltag bereits vor dem Chaos resigniert.  

Die vergangenen zwei Jahre haben die Bedeutung des Wortes „Brexit“ grundlegend verändert - und damit auch dessen Stellenwert im Alltag. Statt einen politischen Meilenstein zu beschreiben, steht das Wort Brexit mittlerweile eher für eine zur Routine gewordenen Ungewissheit und ein dauerhaftes Gefühl der Resignation. Da der Pragmatismus die britische Politik längst verlassen hat, nichts vorherzusehen ist und wenig nachvollziehbar scheint, sind die Menschen um mich herum eher genervt als aufgebracht. Sich von diesen negativen Gedanken zu befreien ist der logische, nächste Schritt. 

Das Leben geht weiter – mit oder ohne Brexit

Das Gespräch mit meinen Freund*innen verstärkt diesen Eindruck: Als gut informierte, passionierte Europäer*innen sind meine in Deutschland lebenden Freund*innen sehr besorgt. Die Europäische Union stellt nun mal eine wichtige Konstante im Leben von uns in der Mitte der 1990er geborenen dar. Spreche ich jedoch britische Kommilitonen*innen auf die aktuelle Situation ihres Landes an, geben diese höchstens ein Achselzucken, einen genervten Gesichtsausdruck, oder ein „it’s all fucked up“ von sich. Und das Leben geht weiter – mit oder ohne Brexit.

Autorin Agnès Borchers ist Mitglied im SPD Freundeskreis London/UK.

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