„Wir sind systemrelevant!“ schallt es stolz aus dem Radio, wo gerade ein Vater über seine Erfahrungen mit der Notbetreuung spricht. Er könnte vieles sein: Busfahrer, Arzt, Kassierer, Pfleger, also einer von den vielen Menschen, die unsere Gesellschaft in einer Krise immer am Laufen halten, die richtig wichtigen Berufe eben. Punkt, fertig, aus.
Aber ist es wirklich so einfach: Kann man eine Liste von Berufen machen, die wir wirklich dringend brauchen, und der Rest ist irgendwie entbehrlich? Und wenn das so ist, sind es dann diese Berufe, denen wir tatsächlich auch besonders viel Respekt entgegenbringen?
Um die erste Frage zu beantworten, muss man sich verschiedene andere Frage stellen, zum Beispiel, ob man wirklich nicht nur für ein paar Monate, sondern die nächsten zehn Jahre auf Kino-, Club- oder Theaterbesuche o.ä. verzichten wollte. Lautet die Antwort auf die letztere Frage Nein, so dürfte dies auch für die Ausgangsfrage gelten. Wie sieht es dann aber mit der Relevanz von und der Anerkennung für verschiedene Berufsgruppen aus?
„Krisenrelevant“ oder „grundversorgungsrelevant“
Das Wort „systemrelevant“ tauchte vor einigen Jahren schon einmal geballt auf, und zwar während der Finanzkrise rund um das Jahr 2010. Damals bezog es sich allerdings nicht auf Berufe, sondern auf Einrichtungen: In der damaligen Krise standen zunächst die Banken im Fokus.
Noch ein paar Jahre davor, während der Natur-„Krise“ Oder-Flut im Jahr 2002, war weder von Banken noch von Berufen die Rede (allerdings auch nicht von „Systemrelevanz“). Unter anderem die Bundeswehr war im Einsatz und konnte ihre Relevanz in Friedenszeiten hervorheben. Über Kassierer*innen zu sprechen, wäre zu dieser Zeit wahrscheinlich niemandem in den Sinn gekommen.
Mehr als nur überleben
Die Ansicht, was in einer Krise gerade relevant ist, ist offenbar von der jeweils aktuellen Notlage geprägt. Sicher könnte man auch außerhalb von Krisenzeiten Berufe isolieren, die für eine Grundversorgung besonders relevant sind, die Corona-Pandemie hat uns aber gelehrt, dass wir hier manchmal zu überraschenden Ergebnissen kommen könnten: Supermarktkassierer*innen wären vor fünf Jahren sicher nicht zuerst genannt worden.
Aus diesen Beobachtungen könnten wir in etwa Folgendes schließen: Wir leben in einer Reihe von ineinander verschränkten „Systemen“, diese wiederum mit vielen Unterbereichen, die verschiedene Zwecke erfüllen sollen und daher in unterschiedlichen „Krisen“ besonders relevant werden können. Diese Zwecke umfassen aber weit mehr als das nackte Überleben.
Deshalb erscheint uns eine Zukunft zum Beispiel ohne Bücher, Serien oder Poetry Slams alles andere als rosig. Auch ohne das gesellige Miteinander ist eine Zukunft nicht vorstellbar. Was täte eine Gesellschaft, in der Menschen dauerhaft kaum die Gelegenheit hätten, zusammenzukommen, egal ob zuhause, in der Kneipe oder im Theaterklub?
Nützlich ist gleich gut bezahlt?
Die Frage, was genau „systemrelevant“ ist, lässt sich also nicht abschließend beantworten. Dennoch gibt es mindestens einen anderen guten Grund, warum wir heute über „Systemrelevanz“ sprechen, mehr als nur die Frage, wer uns durch die aktuelle Pandemie bringt.
Diesen dürfte David Graeber identifiziert haben: In seinem Buch „Bullshit jobs“ stellt er eingangs die These auf, dass ein Beruf, je nützlicher er für andere Menschen sei, er in unserer Gesellschaft umso schlechter bezahlt sei. Belege dafür wären Putzkräfte, Angestellte im Lebensmittelhandel oder Paketbot*innen. Eine Ausnahme davon sind zum Beispiel Ärzte.
Ein Ruf nach Anerkennung
In der aktuellen Krise erhalten plötzlich Berufsgruppen Aufmerksamkeit, die sonst nicht im Fokus der Öffentlichkeit stehen. Mehrfach wurde darüber spekuliert, dass sie ihre Position, also ihre Anerkennung und ihre Bezahlung, damit stärken könnten. Ob dies tatsächlich so sein wird, bleibt noch abzuwarten. Das Etikett der „Systemrelevanz“ gibt Ihnen jedoch die Möglichkeit, auf die Leistungen, die sie erbringen und die zu selten gewürdigt werden, hinzuweisen. Es ist ein Ruf nach Anerkennung.
Dass diese Anerkennung dringend nötig und nicht einfach mit einer Bezeichnung wie „systemrelevant“ besiegelt ist (eine der vielen Realitäten hinter der Sprache!), zeigte ein für mich befremdlicher Umstand: Zwar konnten Lehrerverbände eine frühere Impfung zumindest für Teile ihrer Berufsgruppe erwirken, von den zuvor teils für Ihre Leistung von Balkons beklatschten Kassierer*innen, Busfahrer*innen oder Friseur*innen – mit täglich vielen unterschiedlichen und körperlich nahen Kontakten – war aber im Zusammenhang mit einer hochgestuften Impfpriorität nicht die Rede.
Vorsicht vor Nützlichkeitsrankings
David Graebers These baut zwar auf der Vorstellung auf, dass bestimmte Berufe „wichtiger“ oder „nützlicher“ seien als andere. Zugleich ist er sehr vorsichtig damit, „Bullshit jobs“ zu frei zu definieren. Er sieht nur solche Arbeiten als „Bullshit jobs“ an, deren Existenz selbst von ihren Inhabern nicht gerechtfertigt werden kann. Diese enge Definition sollte uns Mahnung sein: Das Urteil darüber, welche Jobs „nützlich“ oder „nützlicher als andere“ sind, gerade wenn es die Jobs anderer Menschen betrifft, kann ein allzu schnell gefälltes sein. Manchmal ist auch das Sortieren von Excel-Tabellen eine notwendige und wichtige Arbeit, selbst wenn sich das nicht in jedem Fall direkt erschließen mag.
Nützlichkeitsrankings bringen uns also nicht weiter. Die Chance, die aus dieser Pandemie erwächst, ist die, dass wir als Gesellschaft verschiedensten Berufen wieder mehr Wertschätzung entgegenbringen. Vielleicht sollten wir in Zukunft öfter auf die „Systemrelevanten“ und andere Übersehene schauen.