Interview mit Klaus Wowereit

„Eine zutiefst soziale Frage“

11. Mai 2010

vorwärts.de: Mit der Kampagne "Berlin braucht Dich" umwirbt der Senat zurzeit junge Migranten für eine Laufbahn im Öffentlichen Dienst. Warum?

Klaus Wowereit: Weil wir Vorbild sein wollen, auch da. Bislang ist es doch immer noch so, dass junge Leute mit Migrationshintergrund beim Wettlauf um die Lehrstellen in der
Wirtschaft oft Nachteile haben - und es sage mir niemand, dass da nicht auch Vorurteile eine Rolle spielen. Wie unklug. Wir brauchen sie alle, und es ist längst an der Zeit, dass wir auch im
klassischen Staatsdienst mehr Menschen haben, die aus Einwandererfamilien kommen.

Und wie wird die Aktion angenommen?

Wir haben es schon jetzt geschafft, dass in Berlin in den öffentlichen Ausbildungsberufen der Anteil der Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund deutlich steigt. Aber wir sind
damit noch lange nicht zufrieden, es können noch mehr werden. Auch hier gilt: Es geht um Teilhabe für alle, die bisher ausgeschlossen sind, egal ob sie aus Zuwandererfamilien kommen oder nicht.
Berlin braucht alle Talente, die bisher noch nicht genügend gefördert werden.

Sie betonen immer wieder, Integration sei vor allem eine soziale Frage. Wie meinen Sie das?

Integration ist für uns eine zentrale Zukunftsfrage für unsere Gesellschaft. Integration entscheidet darüber, ob der soziale Zusammenhalt gelingt. Sozialer Zusammenhalt bedarf umfassender
gesellschaftlicher Teilhabe eines jeden Einzelnen - und zwar politisch, kulturell und ökonomisch. Wir verstehen Integration deshalb auch als eine politische Querschnittsaufgabe, die in allen
Politikfeldern mitgedacht werden muss.

In diesem Ansatz liegt die Chance, von Vorurteilen wegzukommen. Denn wenn Integration als eine Frage der gesellschaftlichen Teilhabe verstanden wird, hilft es uns nicht weiter, das Thema
als reines Migrationsthema zu diskutieren. Die alleinerziehende Mutter mit drei Kindern in Berlin-Marzahn hat oft ähnliche Probleme wie eine türkischstämmige Familie in Berlin-Kreuzberg. Deshalb
werden wir Integration weiter fassen und weiter denken. Wir wollen wegkommen von den üblichen Reflexen und Schuldzuweisungen. Es geht uns darum zu betonen, dass Integration tausendfach gelingt,
tagtäglich. Und deshalb wollen wir uns an einer rein problemfixierten und defizitgetriebenen Debatte zum Thema Integration, die oftmals nur zu neuerlichen Stigmatisierungen führt, nicht
beteiligen.

Integration ist keine Frage von ethnischer Herkunft oder Glauben. Es handelt sich um eine zutiefst soziale Frage, die ganz eng mit Aufstieg und Aufstiegswillen und damit mit Bildung und
Qualifizierung zusammenhängt. Unser Ziel ist es, eine Gesellschaft zu gestalten, in der wir als Menschen ohne Angst verschieden sein können. So steht es auch in unserem Hamburger
Grundsatzprogramm. Der neue Ansatz wird mithelfen, einen Mentalitätswechsel in diesem Sinne herbeizuführen.

Warum gelingt es dann aber offenbar immer weniger, den Menschen gesellschaftliche Teilhabe zu ermöglichen?

Unsere Gesellschaft ist heterogener und individueller geworden. Rasante Entwicklungen führen zu Verunsicherungen. Viele haben das Gefühl, nicht mehr Schritt halten zu können. Sie fühlen
sich überfordert, ausgegrenzt und resignieren. Nicht selten passiert es, dass dieses Grundgefühl an die eigenen Kinder weitergegeben wird. Fehlender Zusammenhalt, materielle Gründe, mangelnde
Chancen und Perspektiven, Hürden und Selektion im Bildungssystem - das alles sind Rahmenbedingungen, die gesellschaftliche Desintegration fördern.

Um diese Rahmenbedingungen ändern zu können, bedarf es einer politischen Prioritätensetzung. Der Staat kann nicht alles leisten, aber er kann sich entscheiden. Uns geht es darum, kein Kind
zurückzulassen. Deshalb setzen wir ganz konsequent auf frühe und gute Kinderbetreuung, auf frühkindliche Bildung und Ganztagsschulen, auf den gebührenfreien Zugang zu unserem Bildungssystem. Nur
so können wir herkunftsbedingte Benachteiligung ausgleichen, Chancengerechtigkeit herstellen, Perspektiven aufzeigen und die Chance zur gesellschaftlichen Teilhabe sicherstellen.


In Großstädten wie Berlin macht sich das Auseinanderfallen von Milieus besonders deutlich bemerkbar. Wie steuert der Senat gegen?

Berlin ist eine Stadt, in der in der Tat viele Kulturen aufeinandertreffen. Das fängt bei den unterschiedlichen Erfahrungen an, die Menschen aus Ost und West in die Einheit mit gebracht
haben, bis hin zu den migrantisch geprägten Milieus besonders in einigen Innenstadtquartieren in Wedding, Kreuzberg und Neukölln. Es trifft jedoch nicht den Kern, wenn wir in diesen
unterschiedlichen Kulturen das Problem der Stadt sehen. Berlin ist ganz im Gegenteil eine wirklich internationale Stadt, die überwiegend geprägt ist von einer positiven und aufgeschlossenen
Haltung gegenüber den vielen Milieus - und das hat sich gerade in den Jahren seit der Wende deutlich gezeigt.

Was uns Sorgen bereitet, ist die Gefahr der sozialen Spaltung und das Bildungsgefälle. Daher ist es das wichtigste Ziel der Senatspolitik, überall in der Stadt einen gleichberechtigten
Zugang zu Bildung und Ausbildung zu schaffen. Wir haben viele und beispielhafte Initiativen, hierbei zu helfen. So zum Beispiel die "Stadteilmütter", als jene Organisation, wo Migrantinnen sich
selbst helfen, in der Gesellschaft zurecht zu kommen. Wir haben die Initiativen "Kiez macht Schule", in der Schüler, Eltern, Lehrer, aber auch andere Träger im Quartier gemeinsam handeln.
Schließlich das Beispiel "Campus Rütli", wo es gelungen ist, eine ganz schwierige Schulsituation mit einem umfassenden Integrationskonzept wieder auf ein gutes Gleis zu bringen.

Die Berliner SPD hat sich die "solidarische Stadt" auf die Fahnen geschrieben. Wie sieht die konkret aus?

Mit dem Quartiersmanagement, mit Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeitern an Schulen und mit den zahlreichen Initiativen und Projekten, die wir unterstützen, ist die soziale Stadt ein
Erfolgsmodell für Berlin geworden. Jetzt wollen wir einen Schritt weiter gehen: Berlin wird von der sozialen zur solidarischen Stadt, in der die Bürgerinnen und Bürger füreinander eintreten und
die Politik alle dabei unterstützt, ihr Leben eigenständig bestreiten zu können. In der solidarischen Stadt wirken viele am gemeinsamen Erfolg mit - ehrenamtlich Engagierte, Betriebe,
Wohnungsunternehmen. Dazu wollen wir integrations-, bildungs- und sozialpolitische Ansätze noch besser miteinander verknüpfen.

Schwerpunkt des SPD-Landesparteitags im Juni werden die Mieten in Berlin sein. Was haben die mit Integration und Teilhabe zu tun?

Unser Ziel ist es, die Berliner Mischung aller Schichten in den Quartieren zu erhalten. Im Vergleich zu anderen Großstädten in der Bundesrepublik, aber auch im europäischen Vergleich, sind
die Mieten in Berlin besonders günstig. Zudem verfügt Berlin über ausreichend Wohnraum für Menschen mit geringem Einkommen. Das ist positiv. Dennoch müssen wir Tendenzen der Verdrängung und
steigender Mieten in einigen Quartieren entgegentreten. Es ist wichtig, sich heimisch zu fühlen, um sich in seinem Stadtteil und für sein Umfeld zu engagieren. Wenn wir uns also zum Beispiel
gegen den Abbau von Mieterrechten durch die schwarz-gelbe Regierungskoalition wenden, wenn wir die energetische Sanierung von Wohnungen fördern, um die Betriebskosten bezahlbar zu halten, und
wenn wir uns für finanziell handlungsfähige Kommunen einsetzen, um Programme wie die der sozialen Stadt fortzuführen, dann sorgen wir für Stabilität in den Kiezen -- und schaffen damit die
Voraussetzung für Integration und Teilhabe.

Interview: Kai Doering

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