Sozialdemokratie

Zurück zum Erfolg: Die SPD muss auf Werte statt auf Zielgruppen setzen

Werte statt Zielgruppen: Ob es der SPD gelingt, auf veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen zu reagieren, zeigt auch, wie zukunftsfähig sie ist.
Werte statt Zielgruppen: Ob es der SPD gelingt, auf veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen zu reagieren, zeigt auch, wie zukunftsfähig sie ist.
Die SPD kann universelle und integrative Antworten auf die großen Fragen der Zeit geben. Dafür sollte sie allerdings nicht versuchen, es möglichst vielen Zielgruppen recht zu machen, sondern klarer sagen, für welche Werte sie steht.

Lange Zeit war die SPD erfolgreich, weil sie mit einem politischen Programm verschiedene soziale Gruppen zu Wählerkoalitionen zusammengeführt hat. So konnte die Partei für gesellschaftlichen Fortschritt und soziale Sicherheit sorgen. Allerdings ist dieses Modell der Sozialkompromisspartei längst an seine Grenzen gestoßen. Das hat zwei Gründe.

Individuelle Werte sind wichtiger als materielle Lebenslagen

Erstens identifizieren sich Menschen politisch nicht mehr über ihre Zugehörigkeit zu abstrakten sozialen Gruppen, egal ob sie als Milieus, Klassen, Schichten, Religionsgemeinschaften oder Berufsgruppen definiert werden. Individuelle Werte und Einstellungen haben heute einen viel größeren Einfluss auf das Wahlverhalten als sozialstrukturelle Faktoren und materielle Lebenslagen.

In der offenen und pluralen Gesellschaft erfolgt die politische Zuordnung also nicht mehr über soziale Gruppen, sondern über gemeinsame Werte. Bürgerinnen und Bürger tendieren zu den Parteien, mit deren grundlegenden und praktizierten Werten sie am meisten übereinstimmen. Um erkennbar und verlässlich zu sein, müssen Parteien formulieren was sie wollen, und nicht, welchen Zielgruppen sie es recht machen wollen. 

Es fehlen europäische Instrumente des sozialen Ausgleichs

Zweitens haben sich die nationalen politischen Instrumente als unzureichend erwiesen, um im Sinne des Sozialkompromisses Antworten auf die globalisierungsbedingten Herausforderungen zu finden. Die europäischen Instrumente des sozialen Ausgleich sind aber nicht ausreichend entwickelt. Anspruch und Wirklichkeit sozialdemokratischer Politik fallen daher weit auseinander.

Zu lange war der Gedanke des Sozialkompromisses auch von dem Leitbild eines männlichen Familienernährers ohne Migrationshintergrund geprägt. Gesellschaftliche Fragen wie Gleichstellung oder die Gestaltung der Einwanderungsgesellschaft wurden erst sehr spät berücksichtigt und sind mit der Logik des Sozialkompomisses nicht zu beantworten. 

Sie SPD kann Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit geben

Freiheit, soziale Gerechtigkeit und solidarisches Handeln waren schon immer die Grundwerte der Sozialdemokratie. Die SPD ist nun gefordert, ihre Werte in einer grundsätzlich neuen Herangehensweise zur handlungsleitenden Maxime zu machen und das Sozialkompromissmodell hinter sich zu lassen.

Dieser Schritt eröffnet neue Perspektiven für die Zukunftsfähigkeit unserer Partei und unseres politischen Programms. Wir sind als Sozialdemokrat*innen mit unseren Werten und unserer Kompetenz in der Lage, universelle und integrative Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu geben. Dazu sind fünf Elemente unserer politischen Arbeit von besonderer Bedeutung:

  • Wir wollen zuhören, und dabei auch neue Wege ausprobieren (und bewährte Wege wiederbeleben), um zu wissen, welche Themen und Fragestellungen die Menschen bewegen.
  • Wir wollen werteorientierte und unvoreingenommene politische Debatten innerhalb der SPD über die richtigen sozialdemokratischen Antworten auf die Fragen, die die Menschen bewegen.
  • Wir wollen in Abgrenzung zum populistischen Politikansatz Offenheit bei der Wahl der Maßnahmen und Mittel, um sozialdemokratische Werte in konkrete Politik umzusetzen. Dazu brauchen wir die Einbeziehung von Fakten und überprüfbaren Erkenntnissen sowie den regelmäßigen Austausch mit Praktikern, Experten, Betroffenen und Wissenschaft.
  • Wir wollen eine werteorientierte politische Kommunikation, die verdeutlicht, warum eine von der SPD verfolgte Maßnahme zu einer freiheitlichen, gerechten, solidarischen und überzeugenden Lösung führt.
  • Wir wollen diese Form der politischen Arbeit durch strategische Sorgfalt bei der Auswahl der Themen in Wahlkämpfen ergänzen. Politische Forderungen in Wahlkämpfen müssen das eigene Lager einen und darüber hinaus geeignet sein, unentschlossene Bürgerinnen und Bürger von der Richtigkeit eines solidarischen und gerechten Lösungsweges zu überzeugen.

Dieser Politikstil ist dynamisch und anpassungsfähig, aber auch verlässlich und berechenbar. In vielen Unternehmen und Organisationen ist werteorientiertes Führen und Arbeiten daher bereits ein wichtiger Bestandteil der Organisationskultur.

Gesundheit ist eine Frage der Solidarität

Die Corona-Krise zeigt, welch hohen Wert der Schutz der Gesundheit in unserer Gesellschaft einnimmt. Dabei offenbart sich eine Dominanz sozialdemokratischer Werte wie in kaum einem anderen Politikfeld: Das Recht auf bestmöglichen Schutz der Gesundheit soll nach dem Verständnis der meisten Bürgerinnen und Bürger allen Menschen gleichermaßen zu Gute kommen, unabhängig von der Herkunft, beruflichem Status oder den persönlichen finanziellen Mitteln.

Mit konkreter Politik für ein universelles, leistungsfähiges und öffentlich finanziertes Gesundheitswesen kann die SPD in einem hoch relevanten Politikfeld nicht nur die ohnehin von einer solidarischen Politik überzeugten Wählerinnen und Wähler hinter sich vereinen, sondern auch viele weitere Wählerinnen und Wähler ansprechen.

Für eine auskömmliche Finanzierung öffentlicher Güter

Auch an anderen Beispielen lässt sich zeigen, dass die öffentlichen Güter und Dienstleistungen zum zentralen Feld der politischen Auseinandersetzung werden, wenn es um die Verwirklichung sozialdemokratischer Werte geht. Das Spektrum der relevanten Themen reicht dabei vom Zugang zu bezahlbarem Wohnraum, Energie, Mobilität und digitaler Infrastruktur über die beste Bildung unabhängig vom Geldbeutel bis zur Garantie von Sicherheit und Rechtsstaatlichkeit und zum Schutz vor wirtschaftlichen Schocks und Pandemien.

Die Steuer- und Haushaltspolitik sollte daher auf allen Ebenen an der auskömmlichen Finanzierung öffentlicher Güter und Dienstleistungen ausgerichtet werden. Dies eröffnet auch für die kommunale und die europäische Debatte neue Perspektiven. Ein politischer und kommunikativer Fokus auf die Qualität, Quantität und Offenheit öffentlicher Leistungen vergrößert ganz erheblich die Akzeptanz und Popularität solidarischer Politik. Viele Beispiele aus Ländern mit einem gut funktionierenden öffentlichen Sektor zeigen dies.

Eine solidarische Politik kann man nicht beschließen

Die Qualität, Quantität und Offenheit der öffentlichen Güter und Dienstleistungen entscheidet über den Charakter unserer Gesellschaft. Die Kernidee des Neoliberalismus ist die Anwendung von privatwirtschaftlichen Markt- und Wettbewerbsprinzipien auf alle Bereiche des privaten und öffentlichen Lebens – mit den bekannten Folgen und Unzulänglichkeiten, inklusive der Aushöhlung öffentlicher Leistungsfähigkeit. Defizitäre öffentliche Güter und Dienstleistungen sind dann ein Treibstoff für rassistische, nationalistische und populistische Politik. Sozialdemokratische Politik, die sich an Werten statt Zielgruppen orientiert, wird sich auf diesen Feldern als die bessere Alternative beweisen.

Eine werteorientierte, faktenbasierte, unvoreingenommene, partizipative und auf die Mobilisierung von solidarischen Mehrheiten ausgerichtete Politik kann man nicht auf einem Parteitag beschließen. Sie muss sich entwickeln. Ob sie zu einem handlungsleitenden Prinzip der SPD wird, ist auch ein Gradmesser für die Fähigkeit der SPD, auf veränderte gesellschaftliche und ökonomische Bedingungen zu reagieren.

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Kommentare

Seit wann sind "Werte" (wieder ?)relevant ?

Dieser Kommentar wurde gelöscht, weil er gegen Punkt 4 unserer Netiquette verstößt.

Zurück zum Erfolg ...

Ich überlege gerade, welche Zielgruppen (außer den WählerInnen, die CDU/CSU wählen) konkret bei der SPD in den letzten Jahren eine Rolle gespielt haben!?

Ich komme einfach nicht drauf ....

Und ich stelle mir ernsthaft die Frage, wie glaubwürdig die SPD in Sachen „Werte“ noch sein kann, wenn sie doch konsequent "die Werte der SPD" den diversen GroKos geopfert hat?

Eine „werteorientierte, faktenbasierte, unvoreingenommene, partizipative und auf die Mobilisierung von solidarischen Mehrheiten" basierende Strategie kommt schlichtweg 15 Jahre zu spät!

Oder wäre die große Chance im angestoßenen „personellen und inhaltlichen Veränderungsprozess“ nach der Bundestagswahl 2009 gewesen.- Der (Veränderungsprozess) ist dann aber sang und klanglos beerdigt worden! (War offensichtlich mit zu vielen Störungen für eine neue Groko behaftet?)

Ist die Glaubwürdigkeit erst einmal "im A ....", ist diese durch praktische Politik erst einmal wiederzugewinnen!

Und hier würde sich anbieten, erst einmal zu definieren welches die Zielgruppen der SPD sind,- und welche es wieder werden könnten ...

Welche Zielgruppen

Lesen müsste man können und nicht im Gestrigen verharren.
Die beiden Autoren weisen doch ausdrücklich darauf hin, dass die bisherige Strategie zu unserer heutigen Situation geführt hat.
Es ist doch im Leben so, dass, wollen Sie andere Menschen von etwas überzeugen, Sie diese begeistern müssen. Ich verweise nur mal an die Wahlkämpfe in den Sechzigern und Siebzigern. Da ging es eben auch um Werte. Werte wie Freiheit, Menschlichkeit und Gleichberechtigung. Diese Werte gingen alle Menschen an, es brauchte keine Zielgruppen. Die Menschen haben SPD gewählt, weil sie von den Zielen der SPD begeistert und überzeugt waren. Auch Menschen, die vorher völlig anders wählten. Entsprechend groß waren die Widerstände von der sog. konservativen Seite. Die schreckten vor fast nichts zurück, was z.B. Begriffe Deutschlandverräter, Fahnenfküchtiger usw. anschaulich dokumentieren. Uns war das völlig egal.

Die Autoren sagen genau, was uns heute fehlt: Einsicht in die eigene Unfähigkeit, die Zukunft Deutschlands mit den Themen und Werten der Zeit anzugehen, nicht mit Mitteln aus der Urzeit der Sozialdemokratie.

Die politische Botschaft muss zuvorderst den Bürgern gefallen und nicht den Sozis.

Botschaft ?

Ich muß mich dagegen verwehren das eine "politische Botschaft" den Wählern gefallen muß, jedenfalls solange diese "Botschaft" rein verbal bleibt.

Wenn Sie dagegen meinen das die politische "Botschaft" vorrangig durch politisches Handeln bestimmt sein soll bin ich ganz bei Ihnen.
Auf Worte jedenfalls würde ich parteiübergreifend nichts mehr geben. Nicht solange alle Parteien meinen, das Absichtserklärungen, Wahlversprechen und Parteiprogramme nach Abgreifen der Stimmen bedeutungslos sind und nicht mehr erfüllt werden müssen. Gleiches gilt natürlich für alle Parteien, die ihre angeblichen "Werte" jederzeit problemlos ignorieren und entgegen eben diesen "Werten" Realitäten schaffen.

Hier müßte erst einmal jede Partei durch politisches Handeln beweisen, wie fest sie zu ihren angeblichen "Werten" steht. Genügend beweiskräftige Baustellen wie z.B. Grundrente und Finanztransaktionssteuern sind zur Zeit verfügbar.

Konkretisierung

Da die materielle Frage mit der seit Jahren vorherrschenden Politik nicht 'große Mobilität' (ausser nach unten - sprich: down-sizing) zeigte, müssen Wähler mehr zugunsten des Individuellen votieren, weil es sie sonst ganz zerrisse. Es gilt ja noch der Wert der Wahlbeteiligung. Das wird auch gern vergessen. Effekte müssen her, nicht Spiegelstrich-Nuancen.

Danke

Vielen Dank für diesen wunderbaren Beitrag. :)

"Die SPD kann Antworten auf

"Die SPD kann Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit geben".
Die Partei muss erst einmal die Entscheidungen der Vergangenheit, die in Regierungsverantwortung oder Mitverantwortung getroffen wurden, zumindest teilweise kritisch hinterfragen und zur Debatte stellen. Die Glaubwürdigkeit kann nu so wieder hergestellt werden.