Neue Ostpolitik

Wie würde Willy Brandt sich heute gegenüber Russland verhalten?

Felix Hett10. August 2016
Basilius-Kathedrale in Moskau
Basilius-Kathedrale in Moskau: Eine konstruktive Diskussion über eine neue Ostpolitik muss die Frage mitdenken, wie sich langfristig die Chancen auf Wandel in der russischen Politik verbessern lassen.
Die Debatte über den Umgang mit Russland erhitzt die Gemüter – auch auf vorwärts.de. Klar ist, dass die Ostpolitik Willy Brandts nicht eins zu eins auf die heutige Situation übertragen werden kann. Etwas daraus lernen kann man aber trotzdem.

In der auch auf vorwärts.de geführten Debatte über eine neue Ostpolitik beanspruchen Vertreter unterschiedlichster Positionen, jeweils im Sinne Willy Brandts zu argumentieren. Dabei sind weder Brandt noch die von ihm 1969 begonnene Entspannungspolitik weiße Flächen, auf die man alles Mögliche projizieren kann. Im Gegenteil: Die Politik der sozialliberalen Koalition, die einen entscheidenden Beitrag zur Wiedervereinigung Deutschlands leistete, ist hinreichend ausgeleuchtet.

Die Welt von heute ist anders als die von 1985

Bei der Frage, was man aus diesem Teil der Geschichte für die heutige Ostpolitik lernen kann, gelten einige Einschränkungen. Die Welt von heute ist anders als die von 1985. Die bipolare, ideologische geprägte und den Globus umspannende Blockkonfrontation ist vorüber. Russland befindet sich in einem Konflikt mit der EU und den USA, die als „Westen“ mal mehr, mal weniger geschlossen auftreten. Der Rest der Welt ergreift im Ringen um die Zukunft der Ukraine in der Regel keine Partei.

Auch in einer zweiten Hinsicht gibt es keine Blöcke mehr: Nach den Staaten Ostmitteleuropas haben sich auch die ehemaligen Sowjetrepubliken vom alten Moskauer Zentrum emanzipiert. Sie erwarten, als gleichberechtigte und vollwertige Subjekte des Völkerrechts behandelt zu werden. Sie können diesen Anspruch aber bislang nicht aus eigener Kraft verwirklichen. Geblieben ist die nukleare Bedrohung: Russland und die USA haben weiterhin die Möglichkeit, sich wechselseitig zu vernichten. Das Gleichgewicht des Schreckens besteht fort, auch wenn es im öffentlichen Diskurs in den Hintergrund getreten ist.

Was eine neue Ostpolitik von der alten lernen kann

Weil sich die Rahmenbedingungen geändert haben, könnte eine neue Ostpolitik von der alten vor allem drei Methoden lernen:

  • Erstens hatten Willy Brandt und Egon Bahr ein klares Ziel: Sie wollte die Folgen des Mauerbaus 1961 kurz- bis mittelfristig erträglicher machen, langfristig die Spaltung Deutschlands und Europas zu überwinden (aber nicht die Sowjetunion zu demokratisieren).
  • Zweitens prägte die Politik das Prinzip, dass der erste Schritt zur Überwindung des Status quo seine realistische Analyse ist. Wer die Berliner Mauer durchlässig machen wollte, musste verstehen, warum sie da war.
  • Und drittens war der „lange Atem“ für die Politik stilbildend. Die Akteure wussten, dass politische Veränderungen sich nicht über Nacht vollziehen. Um seine großen Ziele in der Zukunft zu erreichen, muss man in der Gegenwart kleine, manchmal kontraintuitive Schritte machen. So war die vermeintliche Zementierung der deutschen Teilung durch die De-facto-Anerkennung der DDR letztlich der erste Schritt zur deutschen Einheit.

Eine durch diese Prinzipien inspirierte Debatte zu einer neuen Ostpolitik Deutschlands und der EU muss sich daher an diesen drei Fragen orientieren: Was ist das Ziel? Was ist der Status quo? Und welche kleinen Schritte sind heute denkbar und möglich, um das langfristige Ziel zu erreichen?

Welche Ziele hat eine neue Ostpolitik?

Bei der Frage nach dem Ziel herrscht in der aktuellen Debatte keine Eindeutigkeit. Ist es weiterhin die Modernisierung und Demokratisierung sämtlicher Sowjet-Nachfolger inklusive Russlands? Diese Leitidee prägte die Außenpolitik nach der Perestroika. Oder sollte diese Zielsetzung als gegenwärtig unerreichbar zurückgestellt werden? Ostpolitik hieße dann, sich auf Wiederherstellung des Friedens in Europa konzentrieren, was eine Rückkehr zu den klassischen, in den letzten Jahren aber vernachlässigten Fragen wechselseitiger Abrüstung und Vertrauensbildung implizieren würde.

Die Ende 2015 vorgestellte Revision der Europäischen Nachbarschaftspolitik deutet einen ähnlichen Kurswechsel von Dynamisierung zur Stabilisierung mit Blick auf die Staaten der Östlichen Partnerschaft an. In Russland haben die Erfahrungen der letzten beiden Dekaden gezeigt, dass ein innen- wie außenpolitischer Wandel durch „den Westen“ nicht bewirkt werden kann. Transformation kann nur dann von außen unterstützt werden, wenn sie im Land politisch gewollt ist. Dies scheint gegenwärtig in Russland nicht der Fall zu sein – auch das gehört zur realistischen Analyse des Status quo.

Langfristige Chancen auf einen Wandel in Russland

Gerade deswegen muss eine konstruktive Diskussion über eine neue Ostpolitik die Frage mitdenken, wie sich langfristig die Chancen auf Wandel in der russischen Politik verbessern lassen. Es spricht viel dafür, dass dies am ehesten gelingt, wenn alle Beteiligten ihre Kräfte auf den Ab-, und nicht den Aufbau von Bedrohungsperzeptionen der jeweils anderen Seite konzentrieren. Auch würde dies den Staaten zwischen Russland und der EU bessere Entwicklungschancen einräumen, da sie die Hauptleidtragenden der gegenwärtigen Konfrontation sind.

Ein im Sinne der „kleinen Schritte“ gangbarer Weg wäre, Russland immer wieder Angebote zur Zusammenarbeit in ausgewählten Feldern zu machen, ohne dabei die grundsätzlichen Differenzen in Fragen des Völkerrechts und der europäischen Sicherheit zu überdecken. Die notwendige Debatte zu möglichen ersten Schritten steht jedoch erst am Anfang.

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