Putins Angriffskrieg

Wolfgang Thierse: Verdammung der SPD-Entspannungspolitik ist falsch

Wolfgang Thierse22. April 2022
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: „Ja, Friedenspolitik kann scheiten – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch.“
Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse: „Ja, Friedenspolitik kann scheiten – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch.“
In der Debatte über die deutsche Haltung zu Russland warnt Ex-Bundestagspräsident Wolfgang Thierse vor einer Verteufelung der SPD-Entspannungspolitik. Sie sei eine Erfolgsgeschichte gewesen. Und werde – nach Putin – vielleicht wieder gebraucht.

Das ist tatsächlich ein historischer Einschnitt: Das Undenkbare, das Unfassbare ist geschehen – ein brutaler Krieg in unserer Nachbarschaft, in Europa. Es gibt keinen anderen Vergleich: Wie Hitler-Deutschland 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, so führt Putin-Russland einen Angriffskrieg gegen sein Nachbarland Ukraine. Und verletzt alle Regeln und Verträge, die bisher die europäische Friedensordnung ausgemacht haben, missachtet das internationale Recht, zerstört mit der Ukraine auch den europäischen Frieden.

Putin führt mit steigender Brutalität Krieg und begeht Brudermord. Die täglichen Bilder davon – erst recht die von Kriegsverbrechen – machen traurig und zornig und verzweifelt. Sie müssen Anlass für kritisches, auch selbstkritisches Nachdenken sein. Und auch für politische Konsequenzen und Neuorientierungen, wie sie Bundesregierung und Kanzler Scholz begonnen haben.

CDU/CSU tut, als wäre sie nie dabei gewesen

Der emotionale Schock also ist verständlich, aber sind es die moralischen Schuldzuweisungen an die SPD auch, mit denen sich jetzt Politiker und Journalisten Tag für Tag geradezu überbieten? In einer Art negativer Euphorie wird nahezu alles verdammt und verteufelt, was vor dem 24. Februar deutsche und westliche Politik gegenüber Russland war, personifiziert in Frank-Walter Steinmeier, der nicht nur vom ukrainischen Botschafter attackiert wird.

Und CDU/CSU tun so, als wären sie nie dabei gewesen, obwohl doch die Kanzlerin und alle Verteidigungsminister der vergangenen 16 Jahre CDU-Mitglieder waren. Nein, Steinmeier ist Repräsentant einer Politik, die in den vergangenen Jahrzehnten quer durch alle demokratischen Parteien betrieben wurde und die von der großen Mehrheit der Bevölkerung unterstützt wurde: der Entspannungspolitik! Ich halte sie gegen alle aktuellen Verteufelungen für eine Erfolgsgeschichte.

Nicht Panzer brachten die Sowjetunion zu Fall

Erinnern wir uns: Nicht Krieg, nicht Bomben und Panzer haben zum Zusammenbruch des Sowjet-Imperiums geführt, sondern die Soft-Power und ökonomische Kraft des Westens (und natürlich Gorbatschow und die zivilgesellschaftlichen Oppositionen im östlichen Teil Europas). Auf der Basis westlicher Stärke (und auch des Abschreckungspotentials der USA) und der Kooperationsbereitschaft einer defensiv gewordenen Sowjetunion konnten Egon Bahr und Willy Brandt ihr Konzept der Entspannungspolitik verwirklichen: Wandel durch Annäherung/gemeinsame Sicherheit.

Die KSZE und die Helsinki-Schlussakte waren ein erster großer Schritt zu einer europäischen Friedensordnung unter den Bedingungen des gefährlichen Ost-West-Systemgegensatzes. Die Einebnung der Schützengräben des Kalten Krieges zählte zu den Voraussetzungen für die friedlichen Revolutionen und die Überwindung der kommunistischen Diktaturen. Es folgten 1990 die Charta von Paris, die die neue Friedensordnung Europas ausrief, zu der ausdrücklich die Unverletzlichkeit der Grenzen, die Souveränität der Staaten und die freie Bündnisentscheidung gehörten. Es folgten die Budapester Vereinbarung von 1994 und die NATO-Russland-Akte von 1997. (Sie alle tragen die Unterschrift Russlands!)

Putin beendete den Frieden in Europa

Wir Deutsche, wir Europäer konnten nach 1990 mit starken, guten Gründen meinen, dass Frieden in Europa dauerhaft möglich sei, dass wir Deutsche – umzingelt von Freunden – in einem Zustand historischen Glücks leben könnten. Dieses friedliche Kapitel der europäischen Geschichte ist von Putin abrupt beendet worden. Bis zum 24. Februar konnten wir Europäer glauben, dass Vereinbarungen gelten, dass wirtschaftliche Verflechtungen friedenssichernde Wirkungen haben und gute Sicherheitspolitik sind. – So wie ja auch die westeuropäische Einigung seit den 50er Jahren wirtschaftliche Verflechtung als Basis hatte.

War es gutgläubig, mit Russland und mit Putin im Gespräch zu bleiben? Sind die Versuche falsch gewesen, weil sie jetzt gescheitert sind? Es waren Putins Lügen und Täuschungen, sein verbrecherischer Krieg, die aus unseren berechtigten europäischen Hoffnungen böse Illusionen gemacht haben: Das Europa ein dauerhaft friedlicher Kontinent werden und sein könnte. Die Enttäuschung darüber sollte nicht dazu führen, alle Ideen, Konzepte, Instrumente der Entspannungspolitik in die Rumpelkammer der Geschichte zu kippen. Vielleicht werden wir einige nach dem Krieg und nach Putin wieder brauchen?

Friedenspolitik bleibt weiter nötig

Ja, Friedenspolitik kann scheiten – jetzt an dem brutalen Aggressor Putin. Aber das macht sie nicht falsch. In der Tradition der Entspannungspolitik haben auch und gerade sozialdemokratische Außenminister den immer mühseligen Versuch unternommen, mit dem schwierigen, aber eben gewichtigen Partner Russlands im Gespräch zu bleiben, die Beziehungen zu pflegen, wie das andere westliche Länder ja auch taten. Es war vernünftig, mit ihm in Verhandlungsprozessen zu bleiben, das Minsker Abkommen zu schließen, im Normandie-Format Kompromisse zu suchen, um den sich zuspitzenden Konflikt nicht noch heißer werden zu lassen. Diese Bemühungen bis an die Grenze der Selbstdemütigung waren schließlich auf den gefährdeten Frieden gerichtet.

Nach deren Scheitern spätestens am 24. Februar sind Ernüchterung und selbstkritisches Rückfragen angebracht. Nicht aber die moralische Verdammung all dieser Friedensbemühungen! Wir Sozialdemokraten sollten uns dagegen wehren und zugleich an der (Wieder-)Herstellung einer verlässlichen europäischen/globalen Friedensordnung arbeiten –  mit einem Russland nach Putin. Denn dies ist die Voraussetzung dafür, dass die Welt sich den eigentlichen Menschheitsproblemen widmen kann: dem Klimawandel, der Umweltzerstörung, der weltweiten Armut und sozialen Ungerechtigkeit. Wie auch die Lösung dieser Aufgaben Voraussetzung für globalen Frieden ist.

Fähigkeit zur Selbstverteidigung unverzichtbar

Die Selbstverteidigungsfähigkeit des demokratischen Europas und seine Kooperationsbereitschaft sind gleichermaßen notwendige und vernünftige Beiträge zu einer neu zu gewinnenden globalen Friedensordnung. Das wird unendlich viel größere Anstrengungen verlangen, als wir es uns bisher vorzustellen vermögen.

 

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Kommentare

Friedenspolitik

Ja das ist das Gebot der Stunde. Sozialdemokratische Entspannungspolitik war nie falsch und ist es auch heute nicht. Lasst euch von Stammtischstrategen und Kriegsgeheul nicht irre machen.

Volle Zustimmung - Einigkeit ist wichtig

Herr Thierse trifft den Nagel auf den Kopf. Wir muessen stark sein, der Ukraine helfen die Z-ler massiv zurueckzuschlagen und natuerlich spaeter mit der dann hoffentlich kleinlauteren evtl. ausgewechselten russischen "Regierung" wieder reden. Auch kann man im begrenzten Umfang irgendwann wieder Geschaefte miteinander machen, sofern das Land aus seiner Aggressivitaetsblase nachhaltig herausfindet. Mit Deutschland hat man nach 1945 ja auch wieder alles gemacht - mit Erfolg! Die CDU sollte sich etwas zurueckhalten und nicht in parteipolitische Oppositionsreflexe fallen. Die SPD im Gegenzug sollte ihre fundamentalpazifischtischen Reflexe ebenfalls beiseite lassen. Es gilt gemeinsam mit allen anderen freien Staaten eben diese Freiheit wieder einmal durchzusetzen - sowas kommt fuer die westlichen Demokratien offenbar alle 70 Jahre immer mal wieder.

Entspannungspolitik

Entspannungspolitik ist Fahne der SPD und so muss es bleiben. Dass CDU, FDP und Grüne was anders haben im Kopf ist nicht eine saubere Sache. Der Bundeskanzler Scholz ist und bleit ein Gewinn für Deutschland, egal wie sich die Dinge entwickeln können. Als italienischer Mitbürger bin ich "stolz auf Scholz" und sage ihm: Danke, Herr Bundeskanzler.

„Verteufelung der SPD-Entspannungspolitik“_1

Thierse ist zurecht empört über den Versuch der CD/SU, die Entspannungspolitik der SPD als „mit Putins Russland verbandelter SPD“ (Merkur) zu verteufeln und hält sie zurecht „für eine Erfolgsgeschichte“. In seine Empörung sollte er aber auch den anonymen „SPD-Fachausschuss für Inneres ...“ (- angeführt von Roth? -) einschließen (Vorwärts: „Es ist Zeit ...“ vom 17.4.), der den“ Angriff auf die Ukraine (nicht) ... als unvorhersehbare Katastrophe, sondern ... von deutscher Russlandpolitik – geprägt auch von Sozialdemokrat*innen –“ mitverursacht behauptet.

Thierse hat an der Erfolgsgeschichte Entspannungspolitik selbst einige Jahre als Bundestagspräsident und stellvertretender SPD-Vorsitzender mitgearbeitet. Er nennt die grundlegenden Verträge, die als Meilensteine der Entspannungspolitik gelten können. Deren Scheitern erkennt er lediglich in „Putins Lügen und Täuschungen (und) seinem verbrecherischen Krieg“. Das ist eine sehr einfache Zusammenfassung der Vorgeschichte des Putin-Verbrechens, denn sie erwähnt 20 Jahre Osterweiterungen von Nato und EU, die die Russische Föderation nicht hinnehmen wollte, mit keinem Wort.

„Verteufelung der SPD-Entspannungspolitik“_2

Da beide Seiten Kompromiss unfähig waren, eine aber kriegsbereit, steht die Ukraine in der Katastrophe, die uns das Fernsehen täglich ins Wohnzimmer bringt.
„Hier rächt sich, dass es dem Westen nach seinem Sieg im Kalten Krieg nicht gelungen ist, Russland in eine gemeinsame Sicherheitsstruktur einzubinden“ (W. Zellner), die „eine Strategie (hätte) erarbeiten müssen, welche die Sowjetunion nicht als Drohung empfinde, aber auch nicht als Ausdruck westlicher Feigheit“. (Bernd Rother/Willy Brandt (Vorwäts am 10.1.)).Besonders eine „Nato-Mitgliedschaft der Ukraine und Georgiens ... hätte der Westen ... in ständiger enger Abstimmung mit den beiden Bewerberländern im Dialog mit Russland um eine belastbare Sicherheitsordnung für ehemalige Sowjetrepubliken in Osteuropa“ verhandeln müssen. „Solche Bemühungen gab es nicht, und das war eine folgenschwere Unterlassung“ (Historiker H. A. Winkler).

Diese Vorgeschichte des Putin-Kriegs wird von unseren Wortgewaltigen in Politik und Presse als Hereinfallen auf das „Putin-Narrativ“ totgeschlagen – Thierse hat sich entschlossen, sie einfach nicht zu erwähnen.

„Wie Hitler-Deutschland

(- wenn es in meiner Macht stünde, wäre der Putin-Krieg in dieser Sekunde beendet, schmorte Putin in der Hölle -) 1939 das Nachbarland Polen überfallen hat, ... (so) führt Putin einen brutalen Krieg in unserer Nachbarschaft ... mit steigender Brutalität“. Die mahnend-entsetzten Thierse-Worte werden täglich vom Fernsehen mit „... noch brutaler geworden“ gesteigert. Und sie sind leider richtig – beschreiben aber keine Eigenart des Putin-Krieges. Jeder „Krieg wandelt sich schnell in eine Maschinerie der Brutalität“, weiß Militärbischof F-J. Overbeck. In Afghanistan hat eine Drohne schon mal eine ganze Hochzeitsgesellschaft getötet, verhungern - befürchtet - mehrere Millionen Menschen. Der „herbeigelogene Angriffskrieg der USA gegen den Irak“ (Schroeder/Merkel) tötete 100.000 (bis 1 Mio.) Zivilisten. Im Jemen ereignet sich eine der „schwersten humanitären Katastrophen, ... kaum beachtet von der westlichen Öffentlichkeit“ - (selbst) Kinder verhungern nicht in wenigen Tagen!! (Muss ich deutlicher werden?) Dabei ist hier nur von konventionellen Kriegen die Rede und nicht von kleinen, darum führbaren taktischen Atomkriegen.

„Wie Hitler-Deutschland_2

In Hiroshima wurde eine von zwei jemals in einem Krieg benutzten Atombomben gezündet. Zehntausende verdampften augenblicklich, bis Jahresende starben etwa 250.000 Menschen. Eine Atombombe B-61 hat die vierfache Sprengkraft der Hiroshimabombe. Davon können wir bald 10 bis 20 mit unseren F-35 Tarnkappenbombern in einem Radius von 1.000 km verteilen. Unsere Wortgewaltigen in Presse und Politik glauben aber nicht an einen Atomschlag. Der Grund: Putin, dem sie einerseits alles glauben, was er über die Ukraine und Europa Schlimmes gesagt hat, andererseits aber gar nichts, den sie für einen tollwütigen Köter, bar jeder Rationalität, halten, - ist kein Selbstmörder.

Thierse will ein neue „globale Friedensordnung, (die) unendlich viel größere Anstrengungen verlangt, als wir es uns bisher vorzustellen vermögen“.

Was meint er damit?