
Es ist vollbracht. Nach einem langen Verfahren, in dem die SPD gezeigt hat, dass in ihr jede Menge Leben steckt, steht die neue Parteispitze. Jetzt wird es darauf ankommen, die Hoffnungen der einen nicht zu enttäuschen und die Enttäuschung der anderen in Kooperationsbereitschaft zu verwandeln. Es wird darauf ankommen, eine zukunftsoptimistische Perspektive für die Sozialdemokratie zu entwickeln und ein kooperierendes Team an der Spitze der SPD zu bilden. Es könnte die letzte Chance dafür sein.
Bei diesen gewaltigen Herausforderungen lohnt sich der Blick in die Geschichte der SPD. Immer wieder stand die Partei vor großen Aufgaben. Mitunter befand sie sich in scheinbar ausweglosen Situationen, die sie hat wenden können. Aus dieser Erfahrung lassen sich nicht eins zu eins Antworten für die heutige Zeit übertragen. Aber es steckt unglaublich viel Inspiration in dem, was Vordenkerinnen und Vordenker in anderen Zeiten für die SPD entwickelt haben und darin, wie früher schwierige Situationen aufgelöst wurden. In diesem Sinne hier zwei Lesetipps für die neue Parteiführung:
Ende oder Wende?
Die erste Lese-Empfehlung bezieht sich auf Klimapolitik und Nachhaltigkeit. Bei diesem Thema scheint die SPD mitunter farblos und blass. Umso wichtiger genau zu schauen, was in den eigenen Reihen dazu gedacht wurde. Neben Hermann Scheer, Michael Müller und anderen ist es vor allem Erhard Eppler der hierzu wirklich Außerordentliches geleistet hat. Sein Buch "Ende oder Wende" ist 1975, also vor über 40 Jahren, erschienen. Und trotzdem erscheint es auch heute noch nicht nur aktuell, sondern visionär.
Er greift in dem Band die These vom Ende des Wachstums auf und legt dar, dass bei einer Endlichkeit von Ressourcen ein unendliches Wachstum schlicht nicht möglich ist. Deshalb müsse man genau prüfen, was wachsen soll: Geht es um das, was quantitatives Wachstum bringt im Sinne des „Lebensstandards“ oder geht es um einen qualitativen Zugewinn im Sinne von „Lebensqualität"? Das, was mehr Lebensqualität bringt, soll wachsen. Das, was sie bedroht, soll schrumpfen.
Mit Eppler bei Fridays for Future punkten
Diese Unterscheidung hat Eppler später in die Beratungen um das Berliner Programm eingebracht. Mit den Handlungsansätzen, die Eppler anspricht, könnte man heute bei jeder „Fridays for Future"-Demo punkten: Es braucht eine globale Strategie für das gemeinsame Überleben, der Markt alleine ist wahrscheinlich nicht das einzig gebotene Steuerungsinstrument, die bestehende Eigentumsordnung kann ein Problem sein, ebenso wie die maßlose Fleischproduktion.
Und immer wieder blättert man ungläubig im Buch nach vorne zum Erscheinungsdatum und wundert sich: darüber, wie vorausschauend Eppler war und darüber, wie wenig seitdem passiert ist. Das Buch ist aber nicht nur wegen des konkreten Themas spannend, sondern auch, weil Eppler darin sehr grundsätzlich darüber nachdenkt, was Politik kann und was Politik will. Geht es nur um eine Politik, „die vorhandenes Bewusstsein spiegelt, oder wollen wir durch politisches Handeln Bewusstseinsveränderungen vorantreiben?"
Anders formuliert: Geht es nur darum, auf Umfragen zu starren und nur das zu tun, was gerade populär ist? Oder geht es auch darum, über den Tag hinaus zudenken, Visionen zu entwickeln und andere dafür zu begeistern? Eppler gibt einen Hinweis darauf, wie das gelingen kann: nicht, indem man Angst vor der Zukunft hat, und sich ihr und ihren vermeintlichen Zwängen ausgeliefert fühlt. Denn dann würden die Menschen „nostalgisch und reaktionär reagieren, wenn sie das Gefühl haben, niemand wisse mehr, wie die Zukunft zu meistern sei". Die AfD mit ihrer rückwärtsgewandten Vorstellung einer besseren Vergangenheit, so wie sie nie war, lässt grüßen. Es geht im Gegenteil darum, die Zukunft in den Blick zu nehmen, nicht verzagt, sondern zupackend und optimistisch, mit der Überzeugung, dass Politik die Welt zum besseren gestalten kann.
Zusammenarbeiten! Das Rezept für die Mehrheitsfähigkeit
Zweitens sei ein Band von Kurt Klotzbach empfohlen. Sowohl der Umfang – etwas über 600 Textseiten – als auch der Titel „Der Weg zur Staatspartei“ wirken nicht unbedingt einladend. Schließlich erscheint die SPD heute doch dem ein oder anderen Beobachter viel zu sehr als Staatspartei und viel zu wenig als Bewegungs- oder Programmpartei. Doch das Buch hat es in sich. Hier wird genau nach nachgezeichnet, wie die SPD aus einer einigermaßen deprimierenden Lage zu Beginn der Ära Adenauer zur programmatisch, politisch und auch kulturell führenden Kraft einer Zeit des Wandels wurde und für etwa ein Jahrzehnt die Verkörperung von Modernität und Zukunftsoptimismus wurde.
Diese Entwicklung war alles andere als selbstverständlich. War die Partei bei den ersten Bundestagswahlen 1949 noch etwa gleichauf mit CDU und CSU, baute die Union bei den Wahlen in den 1950er Jahren einen haushohen Vorsprung auf. Ab der Wahl 1961 änderten sich die Verhältnisse allerdings, bis hin zur legendären Willy-Wahl 1972, bei der die SPD nahezu 46 Prozent erreichte.
Bedingungen für gelungene Modernisierung
Klotzbach zeichnet detailliert nach, wie es dazu kommen konnte. Er beschreibt diesen Weg als umfassenden Wandlungsprozess, bei dem politisch-programmatische Neuaufstellung, organisatorische Erneuerung und ein frisches Personaltableau ineinandergriffen. Dieser Prozess war nicht frei von Rückschlägen und alles andere als unumstritten, am Ende aber außerordentlich erfolgreich. In dem Titel von Klotzbach wird deutlich, wie dieser Erfolg organisiert wurde.
Freilich sind die Zeiten heute in vielfacher Hinsicht andere. Das, was Klaus Schönhoven im Nachwort zu diesem Buch schreibt, scheint aber aktueller denn je. Er benennt die Bedingungen für diese gelungene Modernisierung und betont, dass „innerparteilicher Erneuerungswille, programmatisch-politischer Kompetenzerwerb und die persönliche Kooperationsbereitschaft der Spitzenpolitiker ineinander verwoben sein müssen, wenn man als Partei mehrheitsfähig werden will“. Spätestens an der Stelle wird deutlich, was die aktuelle Führung der Partei aus diesem Buch ziehen kann.