
Seit zwölf Jahren regiert Viktor Orbán Ungarn mit komfortabler Mehrheit. Ist die Parlamentswahl am Sonntag bereits entschieden?
Nein, die Wahl ist noch nicht entschieden. Im Gegenteil. Es wird so knapp wie noch nie. In den Umfragen liegt Orbáns Fidesz-Partei zwar knapp vorn, aber niemand geht davon aus, dass es auch nur annähernd erneut zu einer Zwei-Drittel-Mehrheit reicht. Am Ende wird es von den unentschiedenen Wählern abhängen, wer gewinnt.
Inwiefern?
Die ungarische Gesellschaft ist stark polarisiert. Es gibt ein großes Lager, das Orbán und seine Politik unterstützt und ein etwa ebenso großes, das ihn ablehnt. Wie diese Lager am Sonntag abstimmen, steht schon lange fest. Entscheidend werden die Menschen dazwischen sein. Letzten Umfragen zufolge sind noch etwa 16 Prozent der Wähler unentschieden, wem sie ihre Stimme geben sollen. Deshalb werden sie entscheiden, wer die Wahl gewinnt. Auf den letzten Metern tun die Parteien alles, sie zur Wahl zu mobilisieren.
Sechs Oppositionsparteien haben sich zum Bündnis „Vereint für Ungarn“ zusammengeschlossen. Was eint sie außer dem Ziel, eine weitere Amtszeit Orbáns zu verhindern?
Das ist ein Anti-Orbán-Bündnis, ganz klar. Auch wenn die Parteien von ihrer Geschichte und ihren Zielen her zum Teil sehr unterschiedlich sind, eint sie eine gewisse Scham, welches Bild Ungarn für viele inzwischen abgibt. Auch der Kampf gegen die ausufernde Korruption ist ein verbindendes Ziel. Im Vordergrund steht aber die Hoffnung auf einen demokratischen Wechsel nach zwölf Jahren Orbán.
Das Bündnis reicht von Sozialdemokrat*innen bis hin zur Jobbik-Partei, die vor nicht allzu langer Zeit noch als rechtsextrem galt. Kann das halten?
Es stimmt: Das Bündnis ist sehr breit. Was Jobbik angeht, muss man allerdings sagen, dass sich die Partei sehr stark gewandelt hat. Die Neonazis und bekennenden Faschisten, die das Bild lange geprägt haben, sind inzwischen nicht mehr dabei und haben eine eigene Partei gegründet. Jobbik ist deutlich in die Mitte gerückt und die anderen Partner im Bündnis nehmen der Partei diesen Wandel auch ab. Deshalb denke ich schon, dass das Bündnis auch über den Wahltag hinaus Bestand hat. Sollte es tatsächlich nach Sonntag regieren, wird es die neue Regierung aber sehr schwer haben.
Wieso?
Weil sie es mit vollkommen leeren Staatskassen zu tun bekommen wird. Viktor Orbán und Fidesz haben vor der Wahl ordentlich Geschenke verteilt. In Erwartung eines Mitte-Links-Kandidaten des Anti-Orbán-Bündnisses wurde eine 13. Rente eingeführt. Zum Jahresbeginn wurde der Mindestlohn deutlich erhöht. Für alle Berufstätigen unter 25 wurde die Einkommensteuer vollständig gestrichen. Die Liste lässt sich noch fortsetzen. Materielle Verbesserungen kann die Opposition im Wahlkampf dadurch kaum versprechen. Aber all das kostet natürlich jede Menge Geld, das Ungarn eigentlich nicht hat.
Wie schätzen Sie den Spitzenkandidaten des Bündnisses, Peter Marki-Zay, ein?
Wenn er irgendwo auftritt, sagt er zu Anfang eigentlich immer: Ich bin katholisch, Vater von sieben Kindern und konservativ. Das beschreibt ihn recht gut. Er ist ein echter Konservativer, der keinerlei Toleranz für Korruption hat, sagt er. Obwohl er erst 49 ist, blickt er schon auf eine recht lange Karriere in der Privatwirtschaft zurück und hat viele Jahre in den USA gelebt. Ein wenig Deutsch spricht er auch, weil er in seinem ersten Job nach der Schule in Dortmund Schuhe verkauft hat. Politisch betätigt hat er sich bisher vor allem auf kommunaler Ebene als Bürgermeister einer kleinen Stadt, einer ehemaligen Fidesz-Hochburg. Jetzt tritt er ohne eigene Partei an, um Ministerpräsident zu werden. Bei den Menschen kommt er an als einer, der sagt, was er denkt und denkt, was er sagt. Das ist manchmal etwas überraschend, vor allem aber glaubwürdig.
Viktor Orbán gilt als Verbündeter des russischen Präsidenten Wladimir Putin. Welche Rolle spielt der Krieg in der Ukraine im ungarischen Wahlkampf?
Viktor Orbán verfolgt eine ganz eigene außenpolitische Agenda, zu der das ständige Sticheln und Unterminieren europäischer Entscheidungen gehört. Gleichzeitig pflegt er enge Verbindungen zu Autokraten wie Putin oder dem türkischen Präsidenten Erdogan. Als Ende Februar Russland die Ukraine überfallen hat, gab es für ihn nicht die kleinste Chance, das enge Verhältnis zu Putin zu leugnen. Deshalb hat er es auch gar nicht erst versucht. Es hat nur ein, zwei Tage gedauert, bis es eine neue Erzählung gab. Die lautet, dass er die einzige Person ist, die Ungarn aus dem Krieg heraushalten und für Sicherheit sorgen kann. Die Opposition hat zu lange gezögert und so hat sich Orbáns Narrativ durchgesetzt – zumal Fidesz Videoausschnitte verbreitet, die suggerieren, Marki-Zay wäre dafür, ungarische Soldaten in die Ukraine zu schicken. Insofern nutzt der Krieg eher Orbán.
Viktor Orbán gilt als ein enfant terrible in der EU. Sie haben den Image-Verlust Ungarns bereits angesprochen. Was wäre für Europa von einer Regierung unter Marki-Zay zu erwarten?
Marki-Zay ist klar pro-europäisch. Er hat versprochen, innerhalb von fünf Jahren den Euro in Ungarn einführen zu wollen. Das ist sicher mehr als ein Zeichen, dass ihm die europäische Integration wichtig ist. Entscheidend für den Erfolg einer möglichen Regierung wird sein, ob das bisher zurückgehaltene Geld aus dem EU-Wiederaufbaufonds schnell fließt, weil sonst, wie erwähnt, der Haushalt keinerlei Spielräume lassen wird.
Jörg Bergstermann leitet das Büro der Friedrich-Ebert-Stiftung in Budapest.Der Gesprächspartner