
Seit Montag gibt es die ersten Lockerungen der Corona-Beschränkungen. Kleinere Geschäfte etwa dürfen wieder öffnen. Sind Sie froh darüber?
Dazu kann ich nur als Privatperson etwas sagen. Ich bin ja kein Epidemiologe. Ich habe aber die Befürchtung, dass wir die Erfolge, die wir mit den wochenlangen Beschränkungen erreicht haben, mit den Lockerungen zum jetzigen Zeitpunkt aufs Spiel setzen. Ich hätte es deshalb besser gefunden, wenn die Bundesregierung abgewartet hätte, bis die Zahl der Neuinfektionen noch geringer ist, um individuelle Nachverfolgung zu ermöglichen.
Neben Atemschutzmasken ruhen die Hoffnungen, das Virus trotz Lockerungen in Schach halten zu können, auf sogenannten Tracing-Apps zur Nachverfolgung von Infektionsketten. Teilen Sie die?
Ich habe nichts gegen eine solche App. Die hohen Erwartungen, die in sie gesetzt werden, sind allerdings nicht gerechtfertigt. Da sind die Enttäuschungen bereits vorprogrammiert. Zurzeit werden in Deutschland unterschiedliche Ansätze, wie so eine App aussehen und funktionieren könnte, diskutiert. Wenn man sich für den richtigen Ansatz entscheidet, kann eine solche App mittelfristig einen Nutzen haben. Sie aber zur Voraussetzung für weitere Lockerungen von Beschränkungen zu machen, wäre vollkommen falsch.
Ein privater Zusammenschluss von mehr als 100 europäischen Wissenschaftler*innen und Unternehmen hat Anfang April einen Ansatz für eine App vorgestellt, die über die Bluetooth-Technologie erfassen soll, welche Smartphone-Besitzer*innen sich nah genug für eine mögliche Infektion gekommen sind. Wie zuverlässig ist das Verfahren?
Erstmal halte ich es für sehr sinnvoll, dass sich Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler Gedanken darüber machen, welche technischen Möglichkeiten es im Kampf gegen das Corona-Virus gibt. Leider hat sich bei dem Pepp-PT-Projekt aber herausgestellt, dass vieles intransparent ist. Eine Reihe von Wissenschaftlern hat das Projekt deshalb inzwischen verlassen. Hinzu kommt, dass Pepp-PT den technischen Pfad verlassen hat, den Apple und Google als Anbieter von 99 Prozent aller Smartphone-Systeme vorgeschlagen haben. Für eine funktionstüchtige Umsetzung einer Tracing-App ist eine Kooperation mit den beiden Unternehmen aber zwingend notwendig.
Wären damit die technischen Hürden aus dem Weg geräumt?
Entscheidend für die technische Zuverlässigkeit sind letztendlich auch so triviale Faktoren wie die Frage, ob ich das Smartphone in der Hostentasche habe und ob ich es gerade in der Hand halte. Selbst bei idealen Rahmenbedingungen bin ich deshalb sehr skeptisch, ob es aufgrund der generellen Grenzen der Bluetooth-Technologie möglich sein wird, mit einer solchen App eine verlässliche Aussage über Kontakte zwischen Corona-Infizierten und anderen Personen zu treffen. Ist das aber nicht gewährleistet, streut man den Menschen Sand in die Augen, wenn man eine solche App zum Maßstab für die Lockerung der Corona-Bestimmungen macht.
Am Montag haben 300 Wissenschaftler zudem einen offenen Brief veröffentlicht, in dem sie massive Kritik an dem Vorschlag von Pepp-PT äußern. Sie befürchten, dass die App zum Spion auf dem Smartphone werden könnte. Wie begründet ist die Sorge?
Es gibt zwei Arten, wie mögliche Corona-Kontakte nachverfolgt werden können – entweder zentral oder dezentral. Im ersten Fall werden die Kontaktdaten eines Handys zentral pseudonymisiert auf einem Server gespeichert, im zweiten bleiben sie auf dem Handy des jeweiligen Besitzers. Zu Anfang hat Pepp-PT beide Möglichkeiten gleichberechtigt verfolgt, ist dann aber mehr und mehr auf den zentralen Ansatz eingeschwenkt, vor dem ich deutlich warne. Hier ist die Gefahr sehr groß, dass eine Datensammlung entsteht, die weit über das Ziel hinausschießt und die auch vollkommen unnötig für den eigentlichen Zweck ist. Auf diese Weise könnte etwa der Staat oder wer auch immer sich Zugang zu den Informationen verschafft, stark in das Leben der Menschen eingreifen. Der dezentrale Ansatz hingegen führt zum selben Ziel, nämlich zur Identifizierung möglicher Corona-Kontakte, allerdings mit einem deutlich besseren Datenschutz.
Warum hat sich die Bundesregierung aus Ihrer Sicht für die zentrale Variante entschieden?
Da kann ich nur mutmaßen. Ich denke aber, die Verlockung war groß, dass man, wenn Daten zentral erfasst werden, auch die Möglichkeit hat, sie für andere Zwecke zu nutzen. Vielleicht erhofft man sich auch eine bessere Durchsetzung der Isolationsanordnungen, was jedoch dem freiwilligen Charakter der App widerspricht.
Sie haben es bereits erwähnt: Auch Google und Apple haben einen Vorschlag für eine Corona-App gemacht. Was halten Sie von dem?
Auch wenn es paradox klingt, legen Google und Apple bei ihrem Ansatz mehr Wert auf den Datenschutz. Auch technisch ist ihr Vorschlag deutlich praktikabler als der von Pepp-PT. Insofern ist er aus meiner Sicht allen anderen bisherigen Vorschlägen vorzuziehen.
Unabhängig vom Anbieter: Wie lange würde es aus Ihrer Erfahrung dauern, bis eine ausreichende Anzahl von Nutzern eine funktionierende Corona-App auf dem Smartphone installiert hat?
Damit so eine App überhaupt funktionieren kann, braucht es die Schnittstellen von Apple und Google. Die wollen sie im Mai herausbringen und in den folgenden Monaten tiefer in ihren Betriebssystemen implementieren. Dann muss eine App programmiert werden, die darauf aufsetzt. Im Anschluss muss sie verteilt werden. Bis es eine breite Verteilung gibt, wird eine Menge Zeit vergehen. Es hat zehn Jahre gedauert bis „WhatsApp“ als Deutschlands meistinstallierte App auf 60 Millionen Telefonen installiert war. Das wäre auch in etwa eine Größenordnung, die notwendig wäre, damit eine Corona-App aussagekräftig ist. Wahrscheinlich haben wir also eher einen Impfstoff als dass die App großflächig verteilt ist. Von einem Mundschutz erhoffe ich mir da einen deutlich größeren Effekt im Kampf gegen das Virus.
Henning Tillmann ist Diplom-Informatiker, selbständiger Softwareentwickler und lebt in Berlin. Er ist Co-Vorsitzender des digitalpolitischen Think-Tanks D64 – Zentrum für digitalen Fortschritt.Der Gesprächspartner