Kommentar zum 9. November

Was wir verlieren, wenn das Erinnern zum Ritual erstarrt

Peter Schraeder09. November 2016
Gedenken zum 9. November
Geschichte lebendig halten: Protestaktion in Rostock gegen den Diebstahl von "Stolpersteinen" im November 2012
Heute ist der 9. November: ein geschichtsträchtiges Datum, an das jedes Jahr auf die gleiche Weise erinnert wird. Das ist langweilig – und kann gefährlich sein. Das Erinnern an Geschichte muss lebendig bleiben.

So wie jedes Jahr am 9. November sind sie auch dieses Mal wieder zu lesen: die Erinnerungen an den Mauerfall von vor 27 Jahren und die Berichte über die Reichspogromnacht von 1938. Auch der ein oder andere Beitrag zum Hitlerputsch (1923) oder zur Ausrufung der Republik (1918) wird sich finden lassen: Der 9. November ist eines der bedeutungsschwersten Daten der deutschen Zeitgeschichte. Die Frage ist allerdings: Wer ließt die ganzen Berichte eigentlich? Ist das mediale Erinnern nicht längst zum Ritual erstarrt?

Warum gibt es Gedenktage?

Gedenktage und Jubiläen haben wir, damit wir uns immer wieder klar machen, woher  wir kommen – und wer wir sind. Aus dem gleichen Grund feiern wir unseren Geburtstag. Wir vergegenwärtigen das Vergangene, um das Hier und Jetzt zu erklären und so mit Sinn auszustatten. Das ist die Funktion des Erinnerns und mithin des Erzählens von Geschichte.

Gedenktage sind so auch immer Indikatoren dafür, was einer Gesellschaft besonders wichtig ist. So werden sich viele noch an das 25-jährige Mauerfall-Jubiläum erinnern; besonders die Berlinerinnen und Berliner, die eine Lichterkette aus beleuchteten Ballons bestaunen durften. Aber was war eigentlich am 9. November 2008, dem 70. Jubiläum der Novemberpogrome?

500 Jahre sind nur eine Zahl

Dieses Jahr steht am 9. November kein rundes Jubiläum an. Aber vor kaum einer Woche, am Reformationstag, wurde bereits das große Lutherjahr 2017 eingeläutet: 500 Jahre Thesenanschlag; ein halbes Jahrtausend seit Ende des Mittelalters. Das klingt gewaltig, und doch geht es nur um eine Zahl, die sich glatt durch fünf teilen lässt. Das Wirken Luthers und die Bedeutung der Reformation sind gar nicht zu unterschätzen. Aber es ist jederzeit wichtig, sich mit der Vergangenheit zu beschäftigen.

Wenn das Erzählen von Geschichte jedoch um der Wiederholung willen wiederholt wird, dann besteht die Gefahr, dass eine wichtige Funktion des Erinnerns in den Hintergrund gedrängt wird: ein Verständnis für das zu schaffen, was wir, bei allen weiterhin bestehenden Ungerechtigkeiten, erreicht haben – und wohin wir kommen, wenn wir es verlieren.

Geschichte darf kein Märchenbuch sein

Natürlich ist es nicht nur richtig, sondern geradezu eine Pflicht, an den Beginn der systematischen Verfolgung und Ermordung der Juden im Deutschen Reich zu erinnern. Natürlich muss auch vom friedlichen Verlauf des Mauerfalls erzählt werden und von der Euphorie, die von diesem Ereignis ausging. Tatsächlich haben weder der Start der ersten deutschen Demokratie noch der Putschversuch des rechtsextremen Zirkels um Hitler auch nur im Geringsten an Aktualität verloren.

Es geht auch nicht darum zu versuchen, ohne die ritualisierte Erinnerung auszukommen oder uns von der Zahlenmagie zu lösen. Aber Geschichte darf nicht das verstaubte Märchenbuch sein, das immer nur zu Weihnachten rausgeholt wird. Es gibt zwar verschiedenste Möglichkeiten für die ständige Vermittlung von Geschichte, aber angesichts des erstarkten Rechtspopulismus ist es fraglich, wen diese Angebote eigentlich erreicht haben. Daher sollte es der Anspruch unserer Gesellschaft sein, den geschichtlichen Hintergrund der Gegenwart immer wieder aufs Neue zu verstehen und zu erzählen. Unabhängig davon, welchen Tag der Kalender gerade anzeigt.

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