Die Mächtigen mussten ihn zur Kenntnis nehmen, mussten auf ihn reagieren, denn der "Vorwärts" wird zu einem Ort des investigativen Journalismus, der kleine und große Skandale des Kaiserreichs aufdeckt.
Verbunden ist damit auch ein wachsender wirtschaftlicher Erfolg, der im Bau des repräsentativen "Vorwärts"-Gebäudes in der Berliner Lindenstraße seinen Ausdruck findet. Noch die Bilder der kriegszerstörten Ruine vermitteln einen Eindruck von der Größe des Verlags- und Druckhauses, in dem der SPD-Parteivorstand wie ein Gast seine Büros hatte.
Die Tageszeitung erreichte mit Hilfe des Berliner Basismarktes eine tägliche Auflage von mehr als 300 000 Exemplaren und wird mit den wenigen liberalen Medien zu einer wichtigen republikanischen Stimme der Weimarer Republik. Wer dieses alles nachlesen will, muss Hermann Schuelers "Trotz alledem" lesen, der die gesamte politische Geschichte des "Vorwärts" erzählt, ohne dabei die ökonomischen Größen zu vernachlässigen.
Schwerer Start nach 1945
Jens Scholten geht knapp auf diese Vorgeschichte ein, doch greift seine Darstellung zu kurz. Wer über Erfolg und Misserfolg der SPD-Unternehmen nach 1945 urteilt, darf nicht übersehen, welch außerordentlichen Verlust den SPD-Unternehmen der Nationalsozialismus zugefügt hatte. Sie waren nicht nur enteignet worden, sondern die Enteignung wirkte noch Jahre über das Ende der Nazizeit hinaus.
Zwar erhielten sie die Produktionsmittel zurück - zum Teil sehr schleppend - doch die Wiedergutmachung für das enteignete Geldvermögen ließ lange auf sich warten. Erst 1968 und 1972 leistete die Bundesrepublik die letzten Zahlungen. Allein dieser Punkt unterscheidet den Start der SPD-Presse vom Start der Altverleger-Presse.
Zwar hatten diese sämtlich Berufsverbot bis Ende 1949 wegen ihrer nationalsozialistischen Ausrichtung - nur für die wenigen katholischen und liberalen Verleger traf dieses nicht zu, doch enteignet wurde niemand aus dieser Gruppe. Soweit ihre Unternehmen - meist über Strohmänner - wieder produzieren konnten, flossen ihnen die Erträge zu; ab 1948 in der guten D-Mark.
Das zweite Hindernis, das die SPD überwinden musste, war der Linzenzzwang der Besatzungsmächte für Medien. In der Amerikanischen und Französischen Besatzungszone war ihr die Zeitungsgründung verwehrt, auch in der Britischen Zone nur unter Schwierigkeiten erlaubt.
Hier behinderte sie der Kapitalmangel, noch stärker jedoch der Mangel an qualifizierten Journalisten. Es herrschte 1945 keine Überfluss an demokratisch gesonnenen Journalisten in Deutschland. Nicht wenige der sozialdemokratischen Journalisten hatten die Nazis umgebracht, viele waren emigriert und mussten Jahre auf die Erlaubnis der Rückkehr warten. So war die US-Administration nicht gerade großzügig bei der Erteilung von Visa für ihre Besatzungszone.
Auch die Zwangsvereinigung von KPD und SPD zur SED in der Sowjetischen Besatzungszone behinderte das Widererstarken der SPD-Presse, denn auf diese wirtschaftlich sehr starken, in der Bevölkerung gut verankerten Unternehmen musste verzichtet werden.
Genosse Kommunikationsdirektor
Ob die SPD-Presse, darunter auch der "Vorwärts", an die Weimarer Zeit erfolgreicher hätte anknüpfen können, wenn die Rahmenbedingungen der Nachkriegszeit günstiger gewesen wären, bleibt eine unbeantwortbare Streitfrage, für die Jens Scholten eine Fülle von Fakten ausbreitet. Da sein Buch als wissenschaftliche Dissertation geschrieben wurde, musste dieses wohl so sein, für den interessierten, aber nicht vorinformierten Leser wirkt die Faktenfülle desorientierend, doch lässt sich aus ihr einiges heraus kristallisieren.
- Es fehlte dem "Vorwärts" an einem klaren journalistischen Auftrag, der über Bekenntnisse zum Qualitätsjournalismus hinaus ging. In den ersten Jahrzehnten nach 1948 gab es nie den Versuch, einen Chefredakteur und eine Redaktion anzuwerben, die es an Format mitfrüheren Chefredakteuren hatte aufnehmen können, z. B. mit Friedrich Stampfer.
Unvorstellbar, dass auch nur einer der Chefredakeure des Nachkriegs-"Vorwärts" in den SPD-Parteivorstand hätte gewählt werden können.
- Die unternehmerische Führung des "Vorwärts" wurde stets durch Gesellschafter verantwortet, die, mit einer Ausnahme, als deutlich medienfremd bezeichnet werden müssen. Hier werden stets Alfred Nau und Fritz Heine kritisiert, zweifellos zu Recht, aber es gab stets die Gesamtverantwortung des Vorstandes für seine Wochenzeitung.
Als die SPD 1958 nach schweren Niederlagen ihre politische Struktur umbaut und damit die Voraussetzung für den Reformkurs von Godesberg schafft, spielt der "Vorwärts" in den Reformüberlegungen keine Rolle, sogar die Zuständigkeiten für ihn werden kaum verändert. Allein Helmut Schmidt widerspricht dieser Lösung.
- Die unklare Kommunikationsstrategie - was wollen wir mit dem "Vorwärts" erreichen und welche Voraussetzungen müssen wir dafür schaffen - drückt sich auch im unklaren Geschäftsmodell aus: unternehmensrechtlich und in der Produktorientierung. Gesellschaftsrechtlich wird der "Vorwärts" hin und her geschoben, dabei kann der sachkundige Leser den Eindruck gewinnen, dass die Verantwortlichen eine starke Neigung zu steuerlich ungünstigen Lösungen hatten. Auch die Auswahl des Managements schöpft die Möglichkeiten des Arbeitsmarktes nicht aus.
Interessant ist, dass die Anbindung des "Vorwärts" an eine bis in die 1970er-Jahre ertragreiche SPD-Zeitung nicht gewollt wurde. Wäre dieses geschehen, hätte die Entwicklung des "Vorwärts" durchaus günstiger verlaufen können.
Wirtschaftlicher Boykott in der Adenauerzeit
Das Alleinunternehmen "Vorwärts" verzichtete damit auf Synergieeffekte, nach denen ab 1951 auf dem schwierigen Standort Bonn gesucht werden musste und die stets einen beachtlichen Kapitaleinsatz verlangten. Scholten beschreibt in diesen Zusammenhang kaum die wirtschaftlichen Restriktionen, denen sich SPD-Unternehmen in der Adenauerzeit ausgesetzt sahen. Es fehlte an Abonnenten, denn das Abonnement von SPD-Zeitungen wurde im CDU/CSU-Umfeld negativ sanktioniert, es fehlte an Anzeigen, denn es bestand von zahlreichen Inserenten ein strikter Boykott und es fehlte an Kapital, denn für risikobeladene Kredite kam stets nur die BfG in Frage.
Erst in den 1960er-Jahren, vor allem nach Eintritt der SPD in die Große Koalition, milderte sich der Kurs der Wirtschaft gegenüber den SPD-Zeitungen. Für einige kam diese Korrektur zu spät.
Leider wurden die wirtschaftlichen Probleme dieser Zeit noch durch übermäßige Entnahmen des SPD-Parteivorstandes aus den Betrieben, auch aus dem "Vorwärts", verschärft. Jens Scholten führt dafür viele Beispiele an, deren Sinnhaftigkeit uns heute an der ökonomischen Rationalität der Verantwortlichen zweifeln lässt. Man kann dieses Verhalten auch als Ausdruck dafür werten, dass die Verantwortlichen den Druck eines Flugblattes für sinnvoller hielten als die solide finanzielle Ausstattung ihres Leitmediums.
Zum undurchdachten Geschäftsmodell des "Vorwärts"-Verlages gehören die fast verzweifelt zu nennenden Versuche, ihm weitere wirtschaftliche Stützen zu verschaffen. Dem Standort Bonn ist das Scheitern einiger Versuche geschuldet, doch liegt der Kern meist in der mangelhaft entwickelten Idee, der die mangelhafte Umsetzung folgt! Dass es auch anders geht, stellt der SPD-Unternehmensbereich seit einigen Jahren unter Beweis.
Das Fehlen einer Kommunikationsidee beim SPD-Parteivorstand, die personell durch einen Kommunikationsdirektor hätte umgesetzt werden müssen, führt schließlich im Zeitraum 1985/89 zum Ende der Wochenzeitung "Vorwärts". Nahezu tragisch greifen überzogene Ideen von einem Pflichtbezug für alle Mitglieder (Glotz/Clement) mit einer fehlerhaften Formatumstellung, einem anwachsenden Subventionsbedarf und einer falschen Gesellschaftskonstruktion ineinander. Begünstigt durch einen dreifachen Schatzmeisterwechsel in 30 Monaten und dem Rücktritt von Willy Brandt 1987 beschließt ein desorientierter SPD-Parteivorstand 1989 die Einstellung der Wochenzeitung und den Titel-Übertrag auf das SPD-Mitgliedermagazin.
Die rückwärts gewandte Analyse zeigt: wirtschaftlich hätten wenige Korrekturen den "Vorwärts" bei geringen, möglicherweise sogar sinkenden Subventionen retten können, aber einmal vollzogen, fand sich bis heute kein Weg zurück, jedenfalls nicht für das Printmedium Wochenzeitung "Vorwärts".
Es bleibt also festzuhalten, wer mehr über eine 130jährige Geschichte des "Vorwärts" erfahren will, muss zwei Bücher lesen. Bei Hermann Schueler findet er den kämpferischen, den demokratischen Beitrag des "Vorwärts" zur deutschen Geschichte beschrieben und bei Jens Scholten die Unzulänglichkeiten und Fehler in der Unternehmensführung, die schließlich zu seinem journalistischen nicht verschuldeten Ende als Wochenzeitung führten.
Wollte man einen Rat an die aktiv handelnden der SPD-Führung daraus ableiten, dann könnte dieser nur lauten, über Kommunikationsstrategie für die Parteimedien nicht zur zu diskutieren, sondern sie auch personell herauszustellen, denn eines zeigt die "Vorwärts"-Geschichte auch, dass ihm die wechselnden Herausgeber aus der politischen Führung nicht geholfen haben.
Jens Scholten: Zwischen Markt und Parteiräson. Die Unternehmensgeschichte des "Vorwärts" 1948-1989. Veröffentlichungen des Instituts für soziale Bewegungen, Schriftenreihe A, Darstellungen, Band 40. Lieferbar, erschienen am 15.10.2008, 410 Seiten, Abb., Euro 39,90, ISBN 978-3-89861-863-2