Interview mit Gülistan Gürbey

In der Türkei herrschen Nationalismus und Demokratieabbau

Kai Doering25. August 2016
Präsident Erdogan hat die Opposition in der Türkei geschickt in seinen Kurs des Demokratieabbaus eingebunden. Das Parlament entmachtet sich selbst. Einigendes Band ist der türkische Nationalismus. Die Bundesregierung müsste dagegen ein klares Signal setzen, doch Berlin sieht Ankara nur als Verbündeten.

Frau Gürbey*, nach dem gescheiterten Putschversuch in der Türkei halten die von Präsident Erdoğan angekündigten „Säuberungen“ von vermeintlichen Putschisten an. Wohin steuert das Land?

Dass der Putschversuch gescheitert ist, vor allem mit Unterstützung der AKP-Anhänger, ist ein Sieg für die Demokratie. Denn erstmals werden die Tradition der Militärputsche in der Türkei und ihre Unterstützung durch die Bevölkerung zerstört. In demokratiepolitischer Hinsicht ist das ein Meilenstein. Doch auf der anderen Seite wirft das Ausmaß des Regierungshandelns ernsthafte demokratiepolitische Fragen aus.

Welche?

Dieses staatliche Vorgehen reiht sich in jenen innenpolitischen Entwicklungsprozess ein, der spätestens seit der brutalen Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste im Sommer 2013 an Ausmaß und Intensität signifikant zugenommen hat: ein autoritär-autokratischer Staats- und Regierungskurs unter Staatspräsident Erdogan, um die Macht im Staate zu monopolisieren. Dies geschieht auf Kosten demokratiepolitischer Grundlagen, die ausgehöhlt werden, allen voran Meinungs- und Gedankenfreiheit, Pressefreiheit, Unabhängigkeit der Justiz, Schutz von Minderheiten. Dazu gehört auch der Krieg gegen die Kurden. Nunmehr erhält dieser bereits laufende Prozess der Monopolisierung der Macht im Staate durch den Staatspräsidenten und seiner regierenden Partei einen weiteren Aufschub.

Welche Rolle spielt die türkische Opposition?

Die Oppositionsparteien, die kemalistische CHP und ultranationalistische MHP unterstützen den türkisch-nationalistischen Kurs von Staatspräsident Erdogan und seiner Regierung aus Überzeugung. Beide sind Teil der von Staatspräsident und seiner Regierung aktuell gefeierten „Allianz der nationalen Einheit“. Denn der türkische Nationalismus, der einhergeht mit einem rigiden Verständnis von Staat und Nation, ist die einigende Kraft jenseits der parteipolitischen Differenzen. Und dieser von der CHP und der MHP unterstützte türkisch-nationalistische Regierungsdiskurs richtet sich in erster Linie gegen die Kurden und gegen die kurdische HDP, also jene einzige demokratiepolitische Kraft, die mehr Demokratie und Freiheiten einfordert und die Omnipotenz eines rigiden Staates und seiner Strukturen ablehnt.

Erdogan erklärt, er schütze mit seinem Handeln die türkische Demokratie. Was ist davon zu halten?

Auch wenn alles, was derzeit passiert, mit dem „Schutz der Demokratie und des Volkswillens“ begründet wird, hat es mit Demokratie jedoch wenig zu tun. Prägnantes Beispiel ist, wie die kurdische HDP, die durch Wahlen legitimiert ist und Teil der parlamentarischen Opposition ist, gezielt aus parlamentarischen Prozessen (aktuell: die Erarbeitung einer neuen Verfassung) ausgeschlossen wird und dieses Regierungshandeln auch noch von den Oppositionsparteien CHP und MHP unterstützt wird, obwohl es einer Selbstentmachtung des Parlamentes gleichkommt.

Wird die Demokratie in der Türkei Schritt für Schritt abgeschafft?

Die  türkische Demokratie war bislang immer eine defekte Demokratie. Nun steuert diese defekte Demokratie in Eiltempo in Richtung Autoritarismus. Ob am Ende dieses Entwicklungsprozesses ein autoritär-diktatorisches Regime stehen wird, bleibt abzuwarten. Vieles wird auch davon abhängen, wie sich die Oppositionsparteien weiter verhalten werden und ob ein externer Druck durch die USA und die EU spürbar sein wird.

Die Regierung hat gerade mitgeteilt, dass die Türkei an ihren Plänen festhält, bis 2023 Mitglied der Europäischen Union zu werden. Ist das realistisch?

Aktuell ist der Prozess des Autoritarismus und der Entdemokratisierung auf Hochtouren. Würde man heute die Kopenhagener Kriterien als Maßstab anlegen, so würde die Türkei diese definitiv nicht erfüllen. Auch wenn „2023“ als Ziel unter den aktuellen Gegebenheiten nicht realistisch ist, so erfüllt es dennoch aus Sicht von Staatspräsident Erdogan und der Regierung seinen innenpolitischen Zweck.

Die Beziehungen zwischen der Türkei und Deutschland waren schon vor dem Putschversuch belastet. Wie sollte sich die Bundesregierung in der aktuellen Situation verhalten?

Zuverlässige und belastbare Partnerschaft setzt Stabilität voraus und Stabilität ist ohne demokratisch-liberale Entwicklung nicht zu erreichen. Unter diesem Gesichtspunkt bestünde der deutsche Beitrag vor allem darin, die Türkei nicht ausschließlich aus der sicherheitspolitisch-strategischen Brille zu sehen und die demokratiepolitische Entwicklung hintanzustellen. Hier müsste Berlin ein klares Signal setzen und konstruktiv handeln, wenn es darum geht, die demokratiepolitische Entwicklung und eine friedliche Lösung des Kurdenkonfliktes konkret voranzutreiben. Konstruktiver Beitrag umfasst aber auch einen nachhaltigen Dialog mit demokratischen Kräften und Kurden, die bislang vernachlässigt wurden. Erst am Ende einer solchen demokratiepolitischen Entwicklung wäre auch die EU-Mitgliedschaft eine logische Konsequenz.

Deutsche Politiker warnen eindringlich davor, innertürkische Konflikte auf deutschen Straßen auszutragen. Findet das nicht längst statt?

Die Auswirkungen innertürkischer Konflikte auf deutschem Boden hatten wir auch in der Vergangenheit. Warum sollte das jetzt ausbleiben? Wir leben im globalen, transnationalen und digitalen Zeitalter. Die Wege der Mobilisierung haben sich multipliziert. Deshalb ist die Frage, ob das stattfindet oder nicht, obsolet. Von zentraler Bedeutung ist vielmehr, gewaltfreie Strategien der Austragung zu fördern. Und dazu gehört, konstruktiv beizutragen, dass die Konflikte in der Heimat sichtbar abnehmen.

Im Internet werden Erdoğan-Anhänger aufgefordert, Kritiker aus Deutschland dem Präsidialamt zu melden. Es gibt Boykott-Aufrufe gegen Unternehmen. Wie groß ist der Einfluss Erdoğans in Deutschland?

Die AKP genießt auch hierzulande eine große Unterstützung innerhalb der türkischen Bevölkerung, sie ist sehr gut organisiert durch ihr zugeordnete Vereine und Einrichtungen und als regierende Partei kann sie Einfluss über die diplomatischen Vertretungen ausüben. Nicht zuletzt schlägt sich die zunehmende Kontrolle der AKP über die türkische Presse und Medien in der Türkei, was einhergeht mit pro-AKP Berichterstattung und Selbstzensur, auch hierzulande nieder.

In den vergangenen Tagen wurde erneut über die doppelte Staatsangehörigkeit diskutiert. Führt sie tatsächlich zu einem Loyalitätskonflikt, wie die Innenminister der CDU behaupten?

Loyalitätskonflikte würde man auch ohne die doppelte Staatsangehörigkeit haben, weil man ohnehin die emotionale Verbindung zur Heimat hat und diese der staatlichen Kontrolle entzogen ist. Auch angesichts der zunehmenden transnationalen Räume, die Migrations-und Integrationsprozesse auslösen, wird diese emotionale Verbindung nicht verschwinden. Abgesehen davon, dass die Diskussion darüber aufgrund wachsender transnationaler Prozesse anachronistisch ist, bleibt festzuhalten, dass sie in erster Linie politisch-ideologisch motiviert ist. Denn im Kern kollidiert Mehrstaatlichkeit mit Nationalstaat. Nationalstaatlichkeit sucht möglichst nach Einheit und meidet daher Mehrstaatlichkeit. Es hängt also vieles davon ab, was man unter Nationalstaat versteht und wie er mit Vielfalt umgehen sollte.

* PD Dr. habil. Gülistan Gürbey ist Privatdozentin am Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft der Freien Universität Berlin

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