
Der tükische Präsident Erdogan stellt die Humanität Europas auf eine harte Probe: seit er am 28. Februar seine Tore Richtung Europa öffnete, seit tausende Menschen an die Grenzen strömen, seit die EU nur mit Härte, Tränengas und markigen Worten darauf zu reagieren weiß. Ein sonderlich menschliches Bild gibt die Europäische Union nicht ab, während sich der autoritäre türkische Präsident als Hüter der Menschenrechtem präsentiert.
„Die Tore bleiben offen“ betonte Erdogan wiederholt. Zugleich aber wies er seine Küstenwache am Freitag an, wieder Flüchtlinge von ihrer Überfahrt über die Ägäis abzuhalten – so, wie es das Flüchtlingsabkommen mit der EU seit 2016 verlangt. Druck und Zugeständnisse, mit dieser Mischung will Erdogan Montagabend in Brüssel seine Forderungen durchsetzen. Welche konkreten Forderungen das sind, wisse sie nicht, sagte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen. Doch es lässt sich erahnen.
Warum der Flüchtlingsdeal nicht funktioniert
Der Flüchtlingsdeal von 2016 hat in seiner jetzigen Form ausgedient, soviel steht fest. Sechs Milliarden Euro hatte die EU Ankara in Aussicht gestellt, um Flüchtlinge zurückzuhalten, dazu Visa-Erleichterungen und eine Erweiterung der Zollunion. All das habe er nicht erhalten, klagt Erdogan seit Monaten. Die Finanzhilfen sind zwar weitestgehend zugesagt, werden aber nur projektbezogen ausgezahlt. Das ärgert Erdogan, dessen Land circa vier Millionen Flüchtlinge beherbergt und zugleich in einer tiefen Wirtschaftskrise steckt.
Die versprochenen Visa-Erleichterungen für Türken gab es bisher nicht. Die EU begründet das damit, die Türkei hätte die Bedingungen, insbesondere in der Anti-Terror-Gesetzgebung nicht erfüllt. Allerdings ist es ein offenes Geheimnis, dass die EU nie ernsthaft vorhatte, diese Visafreiheit tatsächlich zu gewähren. Die Erweiterung der Zollunion käme der Türkei wirtschaftlich sehr gelegen, doch dem wurde schon 2018 von der EU wegen demokratischen Rückschritten der Türkei eine Absage erteilt. EU-Haushaltskommissar Johannes Hahn schließt weitere EU-Finanzhilfen für die Türkei nicht aus, knüpft sie aber an Bedingungen: „Wir erwarten, dass die erpresserische Politik Ankaras durch die Entsendung von Flüchtlingen in Richtung EU eingestellt wird“, sagte Hahn der Zeitung „Die Welt“.
Neue Forderungen Erdogans
Doch Erdogan hat noch neue Forderungen mit im Gepäck. Sein Sprachrohr, die regierungstreue Tageszeitung „Sabah“ erklärte heute, Erdogan wolle Brüssel davon überzeugen, Flüchtlinge wieder in Syrien anzusiedeln: „Aus menschlichen und strategischen Gründen setzen wir uns dafür ein, dass diese Menschen in ihre Länder zurückkehren können“, so der Kolumnist und Politologe Hasan Basri Yalçın. „Die Türkei hat bereits eine sichere Zone im Norden von Syrien errichtet. Jetzt können ungefähr zwei Millionen der Migranten in diese Region ziehen. Allerdings kostet dies Geld. Will Europa vom Migranten-Zustrom verschont bleiben, sich gegenüber Russland behaupten und einen Platz in der Zukunft Syriens einnehmen, dann muss es zum Aufbau von Siedlungen in diesen Regionen beitragen.“
Ganz so simpel ist die Lage in Syrien allerdings nicht. In der nordsyrischen Provinz Idlib harren bereits eine Million Menschen auf der Flucht vor dem Assad-Regime an der Grenze zur Türkei aus. Doch Erdogan hält dort seine Tore geschlossen – noch mehr Flüchtlinge könne und wolle sein Land nicht aufnehmen, erklärt er. Grund dafür ist auch, dass sich in der Region tausende von extrem gewaltbereiten Dschihadisten aufhalten, die Ankara nicht im eigenen Land sehen will.
Für die EU führt erstmal kein Weg an Erdogan vorbei
Idlib ist zugleich die letzte Rebellenhochburg Syriens. Die Türkei, seit Jahren Schutzmacht der syrischen Rebellen, unterhält dort mehrere Beobachtungsposten. Doch am 27. Februar starben dort mindestens 36 türkische Soldaten durch Bombenangriffe des Assad-Regimes. Zwar handelten Erdogan und Putin am Donnerstag eine Waffenruhe für die Provinz aus, doch ob die von Dauer ist, ist fraglich. Langfristig wird Assad Erdogan in Idlib wohl höchstens einen kleinen Landsstreifen zugestehen, wo Flüchtlinge mehr schlecht als recht versorgt werden können. Dort könnte die EU behilflich sein. Einer umfassenden Sicherheitszone unter internationaler Kontrolle in Syrien erteilten die EU-Außenminister nach einem Krisentreffen am Freitag in Zagreb jedoch eine Absage.
Eine langfristige Lösung der Flüchtlingsfrage stellten die Außenminister nicht in Aussicht. Weder konnten sie sich auf eine gerechte Aufnahme von Flüchtlingen in die EU einigen, noch einen Friedensplan für Syrien oder andere Länder des Nahen Ostens präsentieren. Solange sich die EU nur auf Krisenmanagement beschränkt, führt kein Weg an Erdogan vorbei. Das wissen beide Seiten. Von einem humanitären Umgang mit Menschen auf der Flucht wird da kaum noch die Rede sein.