Hochschulreform

Studium ohne Abitur: Wie Johannes Rau NRW 1972 zum Vorreiter machte

Thomas Horsmann18. Mai 2022
Hochschulmodernisierer Johannes Rau: Er war von 1970 bis 1978 Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen.
Hochschulmodernisierer Johannes Rau: Er war von 1970 bis 1978 Wissenschaftsminister in Nordrhein-Westfalen.
Vor 50 Jahren, am 18. Mai 1972, setzte Wissenschaftsminister Johannes Rau in Nordrhein-Westfalen das Gesamthochschulentwicklungsgesetz durch. Es ermöglicht vielen jungen Menschen ein Studium auch ohne Abitur. Ein Erfolgsmodell

Zur dritten Lesung im Düsseldorfer Landtag wird noch einmal heftig um das Gesetz gestritten: Mit ihm soll endlich das Hochschulstudium reformiert werden. Der Sozialdemokrat Johannes Rau – seit 1970 erster Minister für Forschung und Wissenschaft in Nordrhein-Westfalen – bringt es auf den Punkt: Ein Gesetz, „von dem wir sagen, dass es den Lebensbedingungen der jungen Generation in diesem Lande nach Überzeugung dieser Regierung und der sie tragenden Fraktionen gerecht wird“. Kurz vor 14 Uhr kommt es zur Abstimmung.

NRW: Sozialliberale Koalition gegen die CDU

Die sozialliberale Koalition in Nordrhein-Westfalen unter Ministerpräsident Heinz Kühn (SPD) setzt im Landtag am 18. Mai 1972 das Gesamthochschulentwicklungsgesetz (GHEG) durch – gegen die Stimmen der CDU. Noch im selben Jahr werden am 1. August fünf integrierte Gesamthochschulen gegründet: in Wuppertal, Essen, Duisburg, Siegen und Paderborn, später folgt die Fernuniversität Hagen. Diese Modellhochschulen für die Zukunft sind allesamt Zusammenschlüsse Pädagogischer Hochschulen mit Fachhochschulen.

Die fünf neuen integrierten Gesamthochschulen liegen in Regionen, in denen es bisher keine Universität gibt, die einst von Eisen und Stahl geprägt waren oder die am Rande des Bundeslandes liegen. Es sind Standorte, wo dringend Möglichkeiten für eine akademische Ausbildung geschaffen werden müssen.

Großer Reformbedarf an den Hochschulen

Seit den Studierendenunruhen der 1960er Jahre ist klar, dass das Hochschulstudium reformiert werden muss. Die Zahl der Student*innen wächst weit über die erwartete Zahl hinaus, die Hochschulen sind hoffnungslos überlastet, die Studienzeit wird immer länger, die Zahl der Studienabbrecher*innen steigt, die Qualität der Forschung ist nicht ausreichend, und der rasant wachsende Bedarf an akademisch gebildeten Arbeitskräften wird nicht gedeckt. Zudem ist die Verteilung von Hochschulstandorten höchst ungleich und benachteiligt ganze Regionen.

In dieser Zeit entsteht die Idee der Gesamthochschule, die unter einem Dach verschiedene Hochschularten zusammenfasst – wie Fachhochschulen, Akademien, Ingenieurschulen und Universitäten. Geschaffen wird dadurch ein durchlässiges System, das eine Brücke zwischen praxisnaher Fachhochschule und wissenschaftlichem Arbeiten schlägt.

Die SPD setzt sich durch

Vorteil für die Student*innen ist das einfache Wechseln zwischen den verschiedenen Abschlüssen – ohne komplizierte und langwierige Umwege und Barrieren. Sie können das Gelernte an und in der Praxis erproben. Vorteil für Lehre und Forschung sind eine größere Effizienz bei der Nutzung der knappen Ressourcen, eine einfachere Verwaltung und vor allem ein Blick über den Tellerrand der eigenen Disziplin. Denn interdisziplinäre Forschung steckt noch in den Kinderschuhen.

Johannes Rau und die SPD setzen aus diesen Gründen in der sozialliberalen Koalition die integrierte Gesamthochschule in Nordrhein-Westfalen durch. Ihre Ziele sind, möglichst vielen jungen Menschen ein Studium zu ermöglichen, die Herstellung gleicher Bildungschancen für alle, die Förderung der beruflichen Mobilität sowie mehr Qualität und Effizienz an den Hochschulen.

Vor allem aber öffnet die Gesamthochschule den Weg zum Studium ohne Abitur, was viele Talente für ihre Karriere nutzen. Neben klassischen Studiengängen gibt es nun auch die Möglichkeit eines verkürzten siebensemestrigen Studiums, speziell für Student*innen ohne Abitur. Mit der Einführung der Gesamthochschule, die in allen Bundesländern diskutiert wird, ist NRW Vorreiter in Deutschland. Doch lediglich in Kassel wird ein ähnliches Modell umgesetzt. Das Konzept der verkürzten Studiengänge mit Bachelor-Abschluss soll erst mit dem Bologna-Prozess und der transnationalen Hochschulreform 1999 in ganz Deutschland umgesetzt werden.

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Kommentare

Universitätsreform

Das war damals sozialdemokratische Politik, die das Prädikat sozialdemokratisch verdient hat. Leider war die Ausstattung nicht immer optimal, aber es war ein allumfassendes - universales - Studium möglich und auch das BAFöG ermöglichten Menschen wie mir das Studium. ein Faktor der mir die SPD sympatisch macht. Die universitäre Mitbestimmung die damals praktiziert wurde zeigte auch in die richtige Richtung. Leider ging da, nicht erst seit dem Bolognaprozess, mittlerweiliges einiges verschütt, denn allumfassend gebildete Persönlichkeiten, die über den Tellerrand ihre Spezialfaches blicken können, waren und sind nicht im Interesse der Kapitalverwerter. Es wäre ein Zeichen sozialdemokratischer Politik wieder an die damals angestrebten Ziele anzuknüpfen, speziell um Eindimensionalität nicht weiter zu fördern. Das Unwesen von Privatuniversitäten sollte auch wieder eingedämmt werden.

das gab es

in der DDR schon von Beginn an, und hat dann letztendlich bei uns den Aufschwung ermöglicht, denn viele der dann auf Kosten der Allgemeinheit akademisch in den Arbeiter- und Bauerfakultäten Qualifizierten sind dann ja abgewandert in den goldenen West, das Diplom in der Tasche, und noch das eine oder andere aus dem Besitz. Dann wurde die Mauer gebaut und die BRD hatte ihren ersten PIOSA Schock, es wurde nun auch Arbeiterkindern möglich, Gymnasien zu besuchen, passt dann etwa zu dem hier abgefeierten beginn, nimmt man zur Schulzeit noch die Wehrpflicht dazu