Junge Außenpolitik

Warum es jetzt eine strategische europäische Rüstungspolitik braucht

Michelangelo FreyrieLucas Hellemeier21. April 2023
Politisch müssen jetzt die Weichen gestellt werden, die es den Europäer*innen ermöglichen, die materiellen Grundlagen zur Sicherung und Verteidigung einer zukünftigen Ordnung zu produzieren.
Politisch müssen jetzt die Weichen gestellt werden, die es den Europäer*innen ermöglichen, die materiellen Grundlagen zur Sicherung und Verteidigung einer zukünftigen Ordnung zu produzieren.
Die russische Invasion in der Ukraine ist ein Einschnitt, der die europäische Sicherheitsordnung auf Jahrzehnte prägen wird. Die EU sollte deshalb jetzt ihre Rüstungsindustrie stärker vereinheitlichen. Das würde Europa auch außenpolitisch stärken.

Die Europäische Kommission hat im Zuge der großflächigen russischen Invasion der Ukraine Instrumente angekündigt, um dem plötzlichen Anstieg der Nachfrage nach militärischen Gütern zu begegnen. So zum Beispiel  EDIRPA (European defence industry reinforcement through common procurement act): Die mit 500 Millionen Euro ausgestattete Initiative soll die Beschaffung von Verteidigungsgütern unterstützen, an denen mindestens drei Mitgliedstaaten beteiligt sind, und die administrativen und technischen Kosten gemeinsamer Beschaffungsverfahren decken.

Seit dem 24. Februar wird außerdem auf die sogenannte Europäische Friedensfazilität (EPF) zurückgegriffen, die ursprünglich geschaffen wurde, um die Mitgliedstaaten bei der Bereitstellung von Militärhilfe und Kriegsmaterial für Nicht-EU-Länder zu unterstützen. Ein weiterer Durchbruch gelang im März 2023 mit der Unterzeichnung einer von der Europäischen Verteidigungsagentur (EDA) geleiteten Initiative zur gemeinsamen Beschaffung von 155-mm-Artilleriemunition, dem von der Kiewer Armee am häufigsten verwendeten NATO-Standardkaliber.

Die Beschaffung der Mitgliedsstaaten koordinieren

Diese Entwicklungen sind zu begrüßen, allerdings vergrößern sie die institutionelle Unübersichtlichkeit. Es ist noch unklar, ob und wie EDIRPA im Einklang mit der EPF arbeiten wird. Zusätzlich ist noch abzuwarten, ob diese Initiativen, die mit nicht unerheblichen Kosten für den europäischen Haushalt verbunden sind, Auswirkungen auf bestehende Initiativen wie den Europäischen Verteidigungsfonds haben werden. 

Diese Neuerungen greifen hauptsächlich auf Seite der Nachfrage ein. Es handelt sich um Versuche, die Beschaffungsprioritäten der Mitgliedstaaten zu koordinieren und  eine weitere Zersplitterung des europäischen Verteidigungsmarkts zu vermeiden. Aber solche Initiativen leisten sehr wenig in Bezug auf einer Konsolidierung des Angebots. Die nationalen Regierungen priorisierten den Erhalt nationaler industrieller Fähigkeiten und unterstrichen somit das Gesamtbild der europäischen Rüstungsindustrie, die trotz der damit einhergehenden ökonomischen Ineffizienz in separaten Silos agiert .

Beispielsweise führt der südkoreanisch-polnische Panzerdeal zu einer weiteren Fragmentierung. Polen beschafft zunächst 120 Stück des K2-Kampfpanzers aus südkoreanischer Produktion, während gleichzeitig eine Fertigungslinie in Polen errichtet wird, die weitere 800 Stück für die polnischen Streitkräfte produzieren soll. 

Eine transatlantische Allianz auf Augenhöhe

Eine effektive Konsolidierung der Angebotsseite hätte zur Folge, dass einige Staaten gewisse industrielle Fähigkeiten verlieren. Eine effektive Konsolidierung würde des Weiteren den Exportdruck der europäischen Rüstungsindustrie allerdings mindern und Europa als außenpolitischen Akteur stärken, da Rüstungsexporte stärker nach politischen anstelle von wirtschaftlichen Maßgaben genehmigt werden könnten.

Die Rolle von EDF sollte daher auch in Hinblick auf die künftigen Produktionskapazitäten nicht unterschätzt werden. Der EPF ist ein wichtiges Instrument zur Finanzierung von Forschungs- und Entwicklungsprojekten, das eine stärkere transnationale Zusammenarbeit zwischen Herstellern aus verschiedenen Mitgliedstaaten fördert. Es ist möglich und wünschenswert, dass diese Entwicklungsinitiativen langfristig zu einer Verringerung der Anzahl der zukünftigen Waffensysteme führen wird.

Die umfassende russische Invasion in der Ukraine ist ein Einschnitt, der die europäische Sicherheitsordnung auf Jahrzehnte prägen wird. Politisch müssen nun die Weichen gestellt werden, die es den Europäer*innen ermöglichen, die materiellen Grundlagen zur Sicherung und Verteidigung einer zukünftigen Ordnung zu produzieren. Diese Weichenstellungen wären explizit kein transatlantisches De-coupling, sondern ein Weg zu einer transatlantischen Allianz auf Augenhöhe. Deswegen ist es Zeit für eine strategische europäische Rüstungspolitik, die pragmatische Lösungen für die aktuellen Herausforderungen anbietet. Ein wehrhaftes Europa wird es nur mit einer europäisierten Verteidigungsindustrie geben.

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Kommentare

Europäische Rüstungspolitik

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„Die russische Invasion in der Ukraine_1

ist ein Einschnitt, der die europäische Sicherheitsordnung auf Jahrzehnte prägen wird“. Jeder, der sich zur Sicherheits-, Außen- oder Entwicklungspolitik äußert und etwas auf sich hält, benutzt einen vergleichbaren Satz, um seine Folgerungen umso gewichtiger (und im Grundsatz unangreifbar) zu machen. Dennoch lohnt sich die Frage, was diesen Krieg „auf Jahrzehnte prägend“ macht – also zwei, zwanzig, dreißig "Jahrzehnte" oder 100.

Ist „Invasion“, also Krieg, die „Zeitenwende“, wie unser Bundeskanzler den Satz in einen Begriff presste? Seit 2000 gab es Kriege in Afghanistan, Kosovo (1999), Syrien, Jemen, Irak, Libyen, um nur die in unserer Umgebung zu nennen – und (fast) immer war die Nato (mehr oder weniger geschlossen) daran beteiligt. Dass die Betonung auf „russisch“ läge, wollen wir mal ausschließen. Also muss es der Verstoß gegen „die europäische Sicherheitsordnung“ sein, der den Krieg so zeitenwenderisch außergewöhnlich macht.

„Die russische Invasion in der Ukraine“ zeigt unbestreitbar, dass unsere „europäische Sicherheitsordnung“ keine "europäische" war, vorausgesetzt, wir rechnen die Russische Föderation zu Europa,

„Die russische Invasion in der Ukraine ...“_2

denn Russland erklärte sich dezidiert spätestens seit 2000 gegen die Nato-Osterweiterung, die die Nato für einen „historischen Erfolg“, Russland aber für eine „Katastrophe“ hält. Diese strategische Differenz wurde zum Kipppunkt, als sich die EU-/Nato-Osterweiterung auf ein „Territorium (bezog), das für beide Seiten von vitalem Interesse ist“: die Ukraine (vorher schon Georgien) (Tom McTague). Die Nato formuliert diesen strategischen Sachverhalt so: „Eine starke, unabhängige Ukraine ist für die Stabilität des euro-atlantischen Raumes unerlässlich ... (und) die breitere transatlantische Gemeinschaft“ (Nato-Strategie 2022), lässt also die russische Perzeption einer strategischen Bedrohung gar nicht zu. Da Putin die „Sprache der Macht“ anzuwenden bereit war, „rächte sich, dass es dem Westen nicht gelungen ist, Russland in gemeinsame Sicherheitsstrukturen einzubinden (W. Zellner).

Unsere Antwort auf „die russische Invasion“ war die Annahme des Krieges (, da gab es ja vielleicht auch keine Alternative), seine Ausdehnung zu einem wirtschaftlichen, „indirekt geführten Weltkrieg“ (Zellner),

„Die russische Invasion in der Ukraine ...“_3

mit verheerenden Folgen für den Globalen Süden, und einer „offenen Kriegserklärung an die bio-physischen Systeme der Erde“ (B. Mahnkopf). Zukünftig werden wir nicht mehr auf „Sicherheit durch Zusammenarbeit (sondern) auf Sicherheit durch Abschreckung“ (W. Zellner) setzen.

Die Autoren wollen die „Rüstungsindustrie stärker vereinheitlichen“, um eine „Konsolidierung des Angebots“ von Waffen zu einem „Gesamtbild der europäischen Rüstungsindustrie“ zu bewirken. So wollen sie deren unabgestimmte nationale, daher „ökonomisch ineffiziente“ (Produktion optimieren) ... und Europa als außenpolitischen Akteur stärken“ durch eine „strategische europäische Rüstungspolitik“ in einer „transatlantischen Allianz auf Augenhöhe“.
Die Autoren problematisieren den Ausgangssatz nicht. Er enthebt sie einer Analyse der Bedrohungslage und einer Bestimmung der daraus abzuleitenden militärischen Fähigkeiten. Der Aufsatz der beiden Autoren lässt auch völlig offen, ob „eine effektive Konsolidierung der Angebotsseite ... den außenpolitischen Akteur“ Europa als Lieferant oder als Anwender von „militärischen Gütern“ sieht – überall in der Welt, etwa im Südchinesischen Meer,

„Die russische Invasion in der Ukraine ...“_4

(: ein Lieblingsthema von Frau Baerbock). Die Ideen Prävention und Abrüstung spielen gar keine Rolle; und Ab- statt Aufrüstung ist eh kein Thema. Natürlich können Autoren ihr Thema selbst abgrenzen, aber nicht jede Fingerübung taugt für eine (partielle) „Neuausrichtung der Außen- und Sicherheitspolitik der SPD“.