
Es ist die letzte Rede, die der Bundestagsabgeordnete Peer Steinbrück an diesem Donnerstag im Plenarsaal des Reichstagsgebäudes halten wird. Er verabschiedet sich, so formuliert er es, „als aktiver Politiker und Parlamentarier“.
Fraktionsübergreifender Applaus für Steinbrück
Zum Abschied lässt er seine Kolleginnen und Kollegen im Hohen Haus an zwei Erkenntnissen seines politischen Lebens teilhaben. Erstens: Als Steinbrück vor 47 Jahren in die SPD eintrat, da habe er erwartet, „dass die Verteilung von Sumpfhühnern und Schlaubergern ziemlich einseitig auf die Parteien“ sei. „Und ich gehörte natürlich zur Partei der Schlauberger“, räumt er freimütig ein. Inzwischen wisse er aber, „wie ich zugebe nach einer längeren Lernkurve, dass die Verteilung der Sumpfhühner und Schlauberger in und zwischen den Parteien der Normalverteilung der Bevölkerung folgt“. Diese Erkenntnis habe ihm die fraktions- und parteiübergreifende Zusammenarbeit erleichtert. Lachen und Applaus im Plenum folgen, fraktions- und parteiübergreifend.
Steinbrücks zweite Erkenntnis: „Ich lernte sehr spät, dass es in der Politik nicht nur darauf ankommt, was man sagt und was man macht, sondern auch wie man dabei guckt. Und dies habe ich in einer Laudatio vor wenigen Wochen auch dem Kollegen Schäuble noch einmal gesagt.“ Wieder herzliches Lachen und Applaus der Kollegen, bevor Steinbrück seine allerletzten Worte sagt: „Dies, Herr Präsident, meine sehr geehrten Damen und Herren, war der letzte Ton aus meinem Jagdhorn. Vielen Dank.“ Die Parlamentarier danken ihm mit langanhaltendem Applaus, zahlreiche Abgeordnete erheben sich.
Lammert würdigt Steinbrücks Leistungen
Dann folgt die Würdigung von Bundestagspräsident Norbert Lammert. Er spricht Steinbrück dabei direkt an. Seit 2009 habe dieser dem Bundestag angehört, „viel weniger lang als die meisten innerhalb und außerhalb des Parlaments vermuten“. Aber als Staatssekretär, Landesminister, Ministerpräsident und Bundesfinanzminister „waren Sie mehr als 25 Jahre sowohl im Bundestag als im Bundesrat präsent und haben das politische Leben in Deutschland über ein gutes Vierteljahrhundert maßgeblich mitbestimmt“.
Steinbrücks Arbeiten, Reden und Schriften hätten „breite Beachtung gefunden, wenn auch nicht immer nur schiere Zustimmung.“ Lammert weiter: „Das hat Sie erkennbar weder überrascht, noch wirklich erschüttert. Sie haben sich den Widerspruch, gelegentlich vielleicht auch das Misstrauen ihrer eigenen Parteifreunde, ebenso hart erarbeitet wie den Respekt ihrer politischen Gegner.“
Dank und Respekt des Bundestages
Als Bundesfinanzminister habe Steinbrück auf dem Höhepunkt der Weltfinanzkrise an entscheidender Stelle „einen wesentlichen Beitrag zur Bewältigung der Krise und zur Beruhigung der Öffentlichkeit“ geleistet. „Wir verabschieden Sie heute mit Dank und Respekt aus dem Bundestag“, so der Bundestagspräsident, der am Ende noch eine Bitte an Peer Steinbrück hat: „Falls sie weiterhin Reden halten oder Bücher schreiben: Reden Sie gut über uns. Wir haben es verdient. Sie aber auch.“
Steinbrücks Rede war Teil der aktuellen Plenardebatte zur auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik. Deshalb widmete er zuvor den Hauptteil seiner Rede dieser Thematik. Steinbrück verwies dabei auf eine Art „Zeitenwende“ seit 2014/2015. Diese sei gekennzeichnet durch die „tiefe Erschütterung der postsowjetischen Friedensordnung, der erstmaligen und andauernden territorialen Infragestellung eines Landes im Nachkriegseuropa“, gemeint ist die gewaltsame Annexion der ukrainischen Krim durch Russland. Ein weiteres Krisensymptom sei der Zusammenbruch staatlicher Strukturen im Nahen und Mittleren Osten mit der Folge einer Flüchtlingsbewegung, „die unserem Land beides ausgelöst hat: eine bewunderungswürdige Willkommenskultur und auch Überfremdungsängste“. Steinbrück nannte drittens „Renationalisierungstendenzen in Europa“, den „Aufstieg von autoritären Regimen“ und die „Sehnsucht nach autokratischen Führungsfiguren“.
Steinbrück: Westen steht unter Druck
Das „normative Projekt des Westens“, so Steinbrück „steht unter Druck von innen und von außen“. Es sei aktuell „umgeben von einer Reihe von gesellschaftlichen und politischen Modellen, die sich unseren Werten, den unveräußerlichen Freiheitsrechten, der Demokratie, der Rechtsstaatlichkeit, den Menschenrechten, auch der Trennung von Staat und Kirche entziehen“.
Gerade in dieser Zeit komme der auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik eine besondere Bedeutung zu. Es müsse darum gehen, „mit Hilfe von Sprache, von kulturellem und wissenschaftlichem Austausch, Verständigung und Zusammenarbeit zu ermöglichen“. Dabei gehe es auch darum, „Zivilgesellschaften in ihrer Kraft gegen den Zynismus autoritärer Herrscher und Regime zu stärken“. Deutschland müsse „zivile Konfliktlösungsmöglichkeiten anbieten“, dürfe sie aber nicht „in Besserwisserei“ aufdrängen.
Europa rechtfertigt jeden Einsatz
Steinbrück nannte in diesen „fragilen Zeiten“ das europäische Einigungswerk, das Frieden und Versöhnung in Europa ermöglicht habe, einen „Glücksfall, der jeden Einsatz dafür rechtfertigt, dass es so bleibt“. Er mahnte: „Das bedeutet, dass wir dafür sorgen müssen, dass dieser wunderbare Kontinent nicht auf den Euro, nicht auf die EZB-Zinspolitik, nicht auf nächtliche Sitzungen des europäischen Rates, nicht einmal auf den Brexit und schon gar nicht auf den Krümmungsgrad der Salatgurke reduziert wird.“
Europa sei nicht nur die Antwort auf die Katastrophen des 20. Jahrhunderts, sondern auch auf die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Deutschland habe für den europäischen Zusammenhalt und die Selbstbehauptung Europas einen besonderen Beitrag zu leisten „und auch einen Preis dafür zu bezahlen, im ureigensten Interesse“. Dies müsse den Bürgern mit Verstand aber offensichtlich auch mit deutlich mehr Herz erklärt werden.
Bundestag soll lebendiger debattieren
Steinbrück wünschte sich zum Abschied lebendigere Debatten im Bundestag, da so die Neugier auf Politik wieder wachse und politisches Engagement provoziert werde. „Ich wünsche ihnen und mir, dass die politischen Parteien diesseits der Ausfransungen an den politischen Rändern, in ihrer Unterschiedlichkeit und in ihrer Unterscheidbarkeit“ wieder erkennbarer würden und der Bundestag der zentrale Ort der politischen Debatte sei. „Wir dürfen von den Bürgern nicht gemeinsam als ein Politik-Kartell missverstanden werden, das ihre Befindlichkeiten wegfiltert“, warnte Steinbrück. „Dieses Risiko besteht.“