Gerechtigkeit

SPD-Wertekonferenz: Mit mehr sozialer Gerechtigkeit Vertrauen gewinnen

Vera Rosigkeit10. Mai 2016
SPD-Chef Sigmar Gabriel mit SPD-Neumitglied Susanne Neumann bei der Wertekonferenz Gerechtigkeit im Willy-Brandt-Haus
SPD-Chef Sigmar Gabriel mit SPD-Neumitglied Susanne Neumann bei der Wertekonferenz Gerechtigkeit im Willy-Brandt-Haus
Zu viel Staat und zu wenig soziale Bewegung, so beschreibt SPD-Chef Gabriel den Zustand seiner Partei. Soziale Gerechtigkeit könnte für ihn so aussehen: Statt Banken müssten Schulen die Kathedralen der Zukunft sein.

Was sind Staaten anderes als Räuberbanden, wenn es in ihnen keine Gerechtigkeit gibt? Es ist ein Zitat von Augustinus, das SPD-Chef Sigmar Gabriel am Montag an den Anfang seiner Rede im Willy-Brandt-Haus stellt. Die „Wertekonferenz Gerechtigkeit“ sei die erste von mehreren geplanten Veranstaltungen, die sich um alte und neue Gerechtigkeitsfragen an die Sozialdemokratie beschäftige, betont Gabriel. Und das habe einen Grund: Für die SPD seien Gerechtigkeitsfragen immer auch Glaubwürdigkeitsfragen. Und wenn laut Umfrage nur noch 32 Prozent aller Bürger der SPD Kompetenz bei Fragen der sozialen Gerechtigkeit zutraue, dann sei das ein Alarmsignal, erklärt er.

Soziale Gerechtigkeit gibt Richtung vor

Nicht nur in Deutschland sei die Sozialdemokratie in der Krise, auch in vielen europäischen Nachbarländern würden Durchhalteparolen nicht mehr weiterhelfen. „Wir brauchen klarere Analysen unserer Zeit“, sagt Gabriel. Ob Rente mit 45, Mietpreisbremse, Energiewende, Begrenzung von Leiharbeit und Werkverträgen oder die Integration von einer Million Flüchtlingen – das sozialdemokratische Programm präge die Bundesregierung, erklärt der Vizekanzler. Doch wer kleine Schritte gehe und pragmatische Wege beschreite, kann die Richtung und den engagierten Idealismus junger Menschen aus dem Auge verlieren“, gibt der Partei-Chef selbstkritisch zu bedenken. „Begreifen wir noch den Gerechtigkeitshunger unserer Zeit?“, fragt er.

Schulen als Leuchttürme

Es sei ein Fehler gewesen, hinzunehmen, dass Kapitalerträge geringer besteuert würden als Erträge aus Arbeit. „Wie konnte es uns passieren, Arbeit zu bestrafen“, räumt er ein und kündigt für den Fall einer Regierungsbeteiligung in der nächsten Legislaturperiode an, die Abgeltungssteuer abzuschaffen. Und mit Blick auf die ungleichen Bildungschancen in unserem Land plädiert Gabriel für mehr Investitionen in Bildung. Nicht Banken und Bürohäuser sollten die Kathedralen des 21. Jahrhunderts sein, sondern Schulen müssten zu Leuchttürmen in ihren Stadtteilen werden.

Echte Chancengleichheit ist auch für Nordrhein-Westfalens Ministerpräsidentin Hannelore Kraft entscheidend für die Zukunft unserer Gesellschaft. Der gleichberechtigte Zugang zu Bildung existiere de facto nicht, betont sie in der anschließenden Diskussion. „Wir müssen Verteilungschancen gerechter gestalten.“

Mehr wirtschaftliche Umverteilung

Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW), fasst die wachsende Ungleichheit und mangelnde Chancengleichheit in Deutschland folgendermaßen zusammen: Arm bleibt arm und reich bleibt reich, erklärt er. In kaum einem anderen Industrieland herrsche eine so hohe Ungleichheit wie in Deutschland, so Fratzscher. Die hohen Sozialausgaben seien ein Beleg dafür, dass immer mehr Menschen auf Sozialleistungen angewiesen und damit vom Staat abhängig seien. Die soziale Marktwirtschaft existiert so nicht mehr, kritisiert er. Der Ökonom Michael Hüther bestreitet das. Im Vergleich zu andren Ländern stünde Deutschland gut da. Hüther warnt vor einer Politik der massiven Verunsicherung, wie sie zur Zeit in der Diskussion um die Riesterrente sichtbar werde. Die sei nicht gescheitert, vielmehr gebe es Verbesserungspotenzial, erklärt er. „Unsere soziale Marktwirtschaft ist leistungsfähig“ so Hüther.

Gerechtigkeit als Schlüssel

Und IG Metall-Vize Christine Benner wirbt um Unterstützung im aktuellen Tarifstreit in der Metallindustrie und fordert mehr Gerechtigkeit für Beschäftigte. Auch hier gehe es um die Umverteilung von Vermögen. Immer mehr Menschen hätten Angst vor einem wirtschaftlichen Abstieg. Ihr Appell an die SPD: „Wir dürfen die Mitte der Gesellschaft nicht verlieren.“

Im Kampf um die demokratische Mitte sei Gerechtigkeit der Schlüssel, ist Gabriel sicher. Dafür müsse die SPD Vertrauen zurückgewinnen. Kein leichter Weg, wie sich in der Diskussion mit SPD-Neumitglied Susanne Neumann zeigt. Die Putzfrau und Betriebsrätin will die Agenda 2010 umkehren. Warum soll ich eine Partei wählen, die mir das eingebrockt hat, fragt Neumann mit Blick auf das Befristungsgesetz.

Gabriel weiß, dass es beim Thema Gerechtigkeit um mehr geht als um den Gewinn der nächsten Wahl. Es gehe um einen Gestaltungsanspruch, sagt er. Gabriel: „Wir sind zu viel Staat und zu wenig soziale Bewegung.“

 

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Kommentare

„Wir brauchen klarere Analysen unserer Zeit“

Dem kann man nur zustimmen.

Rudolf Hillferding 1910: „Nicht das reaktionär gewordene Ideal der Wiederherstellung der freien Konkurrenz, sondern völlige Aufhebung der Konkurrenz durch Überwindung des Kapitalismus kann jetzt allein das Ziel proletarischer Politik sein.“

Heute: Nicht die reaktionäre Herstellung der freien Konkurrenz durch die Agenda 2010 und massenhaftem Armutszuzug, sondern die vollständige Wiederherstellung einer intakten Gesellschaft kann jetzt allein das Ziel sozialdemokratischer Politik sein.

Die "Integration" von einer Millionen illegal eingereisten Völkerwanderern und des dadurch erst ermöglichten Nachzuges weiterer Millionen ihrer Familienmitglieder ist das genaue Gegenteil davon.

Klarsichtig war Willy Brandt seiner Regierungserklärung vom 18.1.1973:

"In unserer Mitte arbeiten fast zweieinhalb Millionen Menschen aus anderen Nationen [..] Es ist aber notwendig geworden, daß wir sehr sorgsam überlegen, wo die Aufnahmefähigkeit unserer Gesellschaft erschöpft ist und wo soziale Vernunft und Verantwortung Halt gebieten."

Wer diese soziale Vernunft und Verantwortung nicht zeigt, braucht gar nicht über "mehr" soziale Gerechtigkeit zu fabulieren.

Mit mehr sozialer Gerechtigkeit Vertrauen gewinnen

Ja, alles schön und gut; bereits vor der letzten BT-Wahl und in einem Brief an Sigmar Gabriel habe ich auf das Glaubwürdigkeitsproblem hingewiesen, aber das Gegenteil ist bereits durch den Eintritt in die GroKO eingeleitet worden.
Es liegt nicht an zuviel Staat, sondern an dem Einfluss des Kapitals, wie durch den Mindestlohn, dessen Ausnahmen die Regel darstellen, Mietpreisbremse nur für unsanierte Altbauten, Vorratsdatenspeicherung, andererseits durch Zustimmung zu PKW-Maut etc. deutlich wird.
Und solange Sigmar Gabriel an TTIP, Ceta und Tisa festhält, wird sich an den Wahlergebnissen und Parteiaustritten nichts ändern!
Wie in Österreich deutlich wurde, zahlt sich eine rechte Politik weder mit Zäunen noch mit sozialem Kahlschlag zugunsten einer sozialdemokratischen Partei aus, denn die Anhänger einer rechten Politik (und einer angeblichen Mitte) wählen lieber gleich das Original. Schon Tucholski sagte: "Die Sozialdemokraten glauben, sie seien an der Macht, aber sie sind nur an der Regierung." Und so ist es auch jetzt wieder, denn wären sie an der Macht, müssten sie von vornherein eine andere - vor allem gerechtere - Steuerpolitik betreiben!

Richtige Diagnose, aber zu klein gedachte Antwort

Richtig ist, dass die SPD auch durch die Agenda 2010 von ihrer historischen Mission, einer Gesellschaft geprägt von Gleichheit und Gerechtigkeit, abgekommen ist. Deutschland steht wirtschaftlich gut da; die gerechte Verteilung des Wohlstands gelingt aber nicht (mehr).

Die Gefahr besteht, auf diese richtige Diagnose die falschen Antworten zu geben. Unsere Partei ist strukturkonservativ geworden, und denkt in zu engem Rahmen. Mutigere, größere Pläne, um gesellschaftliche Strukturen zu verändern, sind notwendig.

Unsere Gesellschaft ist heute multikulturell. Einwanderung und die Aufnahme von Flüchtlingen haben die Probleme jedoch nicht verursacht. Aber durch sie wird unsere Gesellschaft noch diverser. Soziale Integration, also das Zusammenbringen von unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, ist daher eine zentrale Herausforderung. Keine sozialdemokratische Antwort ist dagegen, sich in die Grenzen des Nationalstaats zurückzuziehen, und eine ethnisch einheitliche Gesellschaft zu wollen.

Der Mainstream unserer Gesellschaft bleibt sozial-liberal. Ihn gilt es zu erreichen, nicht einen von der AfD repräsentierten Rand, der den Islam, Feminismus und Homosexualität ablehnt.

Große, mutige Pläne sind erforderlich!

Große, mutige Konzepte sind erforderlich, damit nicht die Reichen bei uns, wie auch in den USA, weiterhin noch reicher und die Armen noch ärmer werden!
Die Themen Mittelschicht, kalte Steuerprogression, Rentenniveau, Erbschaftsteuer, Versicherungsbeiträge, Sozialstaat, Schere zwischen Arm und Reich etc müssten einmal im größeren Zusammenhang diskutiert werden. Dass die Ungleichheit bzw. soziale Spaltung seit Jahren zunimmt, dürfte wohl unstrittig sein. Eine der Konsequenzen: die Mittelschicht (entspricht 26% der Nettoeinkommen) trägt rd. 54% zu den Beiträgen der Sozialversicherung bei, die Reichen (entspricht 11% der Nettoeinkommen) nur rd. 6%. Und jetzt will die Union einmal mehr die Lasten der Flüchtlingspolitik durch die Verlängerung des Soli bzw. durch eine Benzinabgabe vorwiegend den Steuerzahlern und damit der Mittelschicht aufbürden! Last, but not least findet durch die aktuelle EZB-Politik (Fluten der Finanz-Märkte mit frischem Geld, negative Zinsen) in Verbindung mit Schäubles "Schwarzer Null-Politik" die größte Umverteilung bei Sparern und Rentnern seit der Währungsreform von 1948 statt, was zu einer weiteren Verarmung von Sparern und Rentnern führen wird. Und dann noch

Fortsetzung - 1

...
das Demografie-Problem, das mutig verdrängt wird!
Die Grundfrage ist: wohin steuert unsere Gesellschaft in der Frage einer gerechten und angemessenen Einkommens- und Vermögensverteilung? Wer hat wann beschlossen, dass wir heute in Bezug auf diese Verteilung da stehen, wo wir stehen? Wer legt fest, wo wir morgen stehen wollen? Mit welchen Maßnahmen? Um diese Grundfragen drückt sich unsere Politik herum und beschließt bzw. unterlässt Maßnahmen, die letztlich die Schere zwischen Arm und Reich weiter öffnen, obwohl das kein Politiker so benennt und zugibt.
Es gäbe eine Maßnahme, die auch das Problem der demographischen Entwicklung (Alterung, Bevölkerungsrückgang, immer mehr Rentnern wie auch Mitgliedern der gesetzlichen Krankenversicherung stehen immer weniger Beitragszahlern gegenüber) berücksichtigt: auch große Einkommen und Vermögen (also auch die Produktionsfaktoren Kapital und Boden) beitragspflichtig machen! Dazu gehört auch die paritätische Beitragsübernahme der Arbeitgeber für Renten/Kranken/Arbeitslosen/Pflegeversicherung.
Bis das passiert, mein Tip:
http://youtu.be/mQvThNJkKb

Ein Lichtblick: das Bundesverfassungsgericht hat bei der Erbschaftsteuer mal wieder

Fortsetzung - 2

...
eine verfassungskonforme Wegweisung gegeben (Eigentum verpflichtet). Auch wenn die Politik erwartungsgemäß dem nicht folgen wird (wie z.B. das von der CSU angekündigte Veto zu Schäubles Vorschlag belegt). Und dass die Familienunternehmer aus allen Rohren schießen, war wohl nicht anders zu erwarten. Zu anderer Gelegenheit singen sie ebenso inbrünstig das hohe Lied des Leistungsprinzips. Nur: Erben ist keine Leistung! Eine Erbschaft ist ein "unverdientes" Vermögen!
Und in der bayerischen Verfassung ist verankert: „Die Erbschaftssteuer dient auch dem Zwecke, die Ansammlung von Riesenvermögen in den Händen einzelner zu verhindern.“ (Art. 123 Abs. 3) Ob das der wirkliche Grund für das angekündigte CSU-Veto ist?
Und was hört man von der SPD? Schweigen im Walde.
Scheint die Politik weiterhin zu ignorieren! Statt dessen warb Kauder um Verständnis für Deutschlands Reiche!
Mein Tip:
http://youtu.be/0zSclA_zqK4
http://youtu.be/-5X2P5J6MiA
http://youtu.be/QqoSPmtOYc8
Was sagt der Bundestag?
http://youtu.be/QGOx8I0COYg

Gerechtigkeit

Auch in Berlin-Hohenschönhausen gibt es Gymnasien, was doch gar nicht das Problem ist. Die SPD war auf der Höhe ihrer Zeit die gesellschaftliche Avantgarde, sie ist heute nicht mal die Lumpenavantgarde. Als Schröder auf einem ostdeutschen Bahnhof mit Eiern beworfen wurde, hätte die Partei aufwachen müssen. Heute steht die AfD davor, in Ostdeutschland zweitstärkste Partei hinter der CDU zu werden. Wer die Glaubwürdigkeit verloren hat, kann die immanenten Fragen nicht mehr lösen. Gerechtigkeit ist ein immanentes Problem. Möglichkeiten werden eingeschränkt, wenn die Eltern ALG II beziehen oder ständig in Unruhe sind, weil sie angestrengt ALG II vermeiden müssen, das hat gravierende Auswirkungen auf die Bildung der Kinder. Weiter bestehen in der Gesellschaft informelle Schranken, die dafür Sorgen, dass "Reiche" reich bleiben bzw. die Positionen bekommen. Das gilt auch besonders für Provinzbehörden, die oft mehr Problem als Lösung sind. Eine Partei, die nicht selbst ethical infrastructures lebt hat die Kraft nicht zu gesellschaftlichen Veränderungen. Die Vision kann nicht mal in der Verwaltung (Regierung) verflachen, dazu muss es überhaupt eine geben. Agenda 2010 ist keine.

ps Gerechtigkeit

PS
Gerechtigkeit benötigt einen Gesellschaftsvertrag, der nicht vorhanden ist, denn der muss auch informell erfüllt werden. Es besteht kein Unterschied darin, ob immer die gleichen in den Talk Shows sitzen (Körber Stiftung) oder immer die gleichen die Positionen bekommen. Talkshows sind ein Mikrolabor der Gesellschaft. Wer darf reden und wo. Wer wird daran behindert. Im Kultur – oder Literaturbereich haben nahezu alle derer, die dort Verträge haben Eltern aus akademischen oder wohlhabenden Kreisen, diesem Bereich fehlt damit die Legitimation, auf gesellschaftliche Änderung zu pochen. Was macht die Kultur eines Landes aus? Die meistgelesenen Autoren des Landes waren kleiner Ganove (Karl May) und Uhrmacherlehrling (Hermann Hesse). Das ist längst vorbei. Beide waren zudem temporär institutionalisiert. Wie offen muss aber eine Gesellschaft gewesen sein, dass diese beiden Autoren so einschlagen konnten. Das gibt es überhaupt nicht mehr. Beide waren zudem Pazifisten, in den unteren Schichten finden sie da heute kaum mehr wen. An kultureller Verelendung trägt Politik Mitschuld. Der Kulturbereich aber ebenso. Wenn sich aus gewissen Schichten niemand wo wiederfindet, läuft was schief.

"Keine soziale Marktwirtschaft mehr"

Sehr geehrter Herr Fratzscher, diesem Befund kann ich nur zustimmen; doch leider war es die SPD-Regierung unter Schöder/Eichel, die die wesentlichen Schritte dazu gemacht hat durch die Deregulierung der Finanzmärkte und Schleifung der Kapitalverkehrkontrollen. Ohne diese hätte die Finanzkrise uns nicht erreicht, jedelfalls nicht so. Und ohne diese hätte sich das Finanz- bzw. Geldregime nicht derart über die demokratischen Staaten und die Politik in Europa erheben können. Die Sozialen Demokraten Europas sollten das ändern!