
Gisela Schwellach ist zuerst etwas ratlos. „Wie kommt man denn hier rein?“, fragt die Schatzmeisterin der Bremer SPD. Sie muss sich geschlagen geben. Es ist nichts zu machen, alle Sitzplätze sind belegt. Also reiht sich Gisela Schwellach bei den stehenden Zuhörern ein. Es sind viele gekommen. Sehr viele. Mehr als manch einer zuvor erwartet hat. Sie alle möchten Martin Schulz hören.
Martin Schulz auf Augenhöhe
Der SPD-Kanzlerkandidat und Parteivorsitzende beginnt seine „Live“-Tour im Rahmen des Bundestagswahlkampfes in Bremen. „Zeit für mehr Gerechtigkeit“ steht auf der Schriftwand der Bühne. Es ist das Thema, mit dem Schulz punktet. Es ist nicht nur sein Thema, sondern der Kern der deutschen Sozialdemokratie. In seiner einstündigen Rede zeigt Schulz, worauf es ihm ankommt: gleiche Bildungschancen für alle – ohne Rücksicht auf die Herkunft, gerechte Löhne, wirkliche Gleichberechtigung von Frauen und Männern sowie innere Sicherheit und Frieden.
Über all dies spricht Martin Schulz nicht von der großen offen gehaltenen Bühne. Sein Pult steht vor den Zuschauern. Er ist auf Augenhöhe mit den vielen Leuten auf dem Platz. Er spricht sie persönlich an. Das gefällt den Menschen auf dem altehrwürdigen Bremer Marktplatz. Sie können ihn zwar nicht alle sehen, aber die große Leinwand zeigt jede Gesichtsregung des Kanzlerkandidaten.
Schulz: „Nichts ist alternativlos“
Er bestätigt das, was Niedersachsens Ministerpräsident Stephan Weil, der sich selbst im verfrühten Wahlkampf befindet, in einer der beiden Talkrunden vor Schulz' Rede über seinen Parteivorsitzenden sagt: „Martin ist so was von authentisch, er ist exakt so, wie er sich darstellt!“ SPD-Generalsekretär Hubertus Heil beschreibt seinen Chef so: „Martin ist ein leidenschaftlicher Europäer, der die Probleme in Europa anpackt.“ Beide bekommen viel Applaus.
Der Sozialdemokrat Schulz zeigt in seiner Rede klare Kante. Er hat konkrete Vorstellungen davon, wie es mit Deutschland und Europa weitergehen soll. Schulz setzt sich deutlich von der „Weiter so!“- und „Keine Experimente“-Strategie der CDU und Angela Merkel ab. „Ich will es besser machen als Bundeskanzler des Landes, nichts ist alternativlos, wie Angela Merkel immer behauptet“, ruft er den Bremerinnen und Bremern zu.
Die Unterschiede zwischen SPD und CDU
Den Noch-Koalitionspartner schont Schulz nicht. In der großen Koalition sei die SPD auf „den geschlossenen Widerstand des konservativen Blocks von Angela Merkel und Horst Seehofer gestoßen“. Zum Beispiel bei der Mietbremse, bei besseren Bedingungen für Zeit- und Leiharbeiter und beim Rückkehrrecht von Teilzeit auf Vollzeit. Dies treffe besonders Frauen. Sie „werden von der CDU und von Frau Merkel persönlich hängengelassen".
Anders als in der öffentlichen Diskussion vielfach behauptet, unterscheiden sich SPD und CDU in vielen Punkten. Und Schulz findet: „Die Menschen haben ein Anrecht darauf zu wissen, wofür wer steht!“ Die Sozialdemokraten plädieren „für solidarische Bürgerversicherung statt Zweiklassenmedizin“. Auch „unbefristete, tarifabgesicherte Arbeitsplätze sollen wieder der Normalfall werden“, gerade im Hinblick auf junge Leute. Frauen dürften nicht weiter 21 Prozent weniger Lohn bekommen als die Männer.
Kostenlose Bildung von der Kita bis zum Studium
Die auffallend vielen Frauen auf dem Marktplatz nicken zustimmend. Aber nicht nur an sie denkt der SPD-Kanzlerkandidat. An die jungen Familien und Paare auf dem Marktplatz gerichtet spricht er sich für kostenlose Bildung von der Kita bis zum Studium aus. Auch die berufliche Bildung müsse im Interesse aller wieder gestärkt werden. Schulz' Credo: „Familie und Beruf dürfen nicht doppelte Last sein, sie müssen doppelte Freude sein.“ Noch eines kommt hinzu, das insbesondere junge Menschen betrifft: „Wir wollen nicht in einem Land leben, wo sich eine ganze Generation von Zeitarbeitsvertrag zu Zeitarbeitsvertrag hangeln muss.“
Doch nicht nur dort klemme es, findet Schulz. Merkels Satz, es gebe keinen Handlungsbedarf bei der Rente, sei „eine Kampfansage an eine ganze Generation“. Um die sich schon jetzt abzeichnende Altersarmut zu vermeiden, fordert der SPD-Kanzlerkandidat einen neuen Generationenvertrag inklusive Solidarrente.
Der Mut zum Aufbruch
Schulz appelliert an den Mut zum Aufbruch. Investitionen müssten endlich dort getätigt werden, wo sie notwendig sind: in Wohnungsbau, Bildung, Breitband und vieles mehr. Es werde Zeit, dafür zu sorgen, „dass es unserem Land morgen noch so gut geht wie heute“. Im Hinblick auf die Krise der Automobilindustrie warnt der SPD-Mann: „Wenn wir nicht schnell handeln, sind wir schon bald nicht mehr das Automobilland Nummer eins.“
Diesen Standpunkt vertritt Schulz mit Vehemenz, und das mit gutem Grund. Denn wenn Deutschland nicht mehr investiere, profitierten davon vor allem die Angstmacher. Damit meint der SPD-Vorsitzende in erster Linie Rechtspopulisten wie die AfD. Diese sei keine Alternative für Deutschland, „sondern eine Schande für unser Land“. Schulz‘ Gegenentwurf zu den Angstparolen von Rechts: „Ich trete an für ein Land, das in Vielfalt stark ist.“ Und: „Ich trete an für mehr Respekt in unserem Land.“ Dazu gehören für ihn auch die Stärkung der inneren Sicherheit und die Bekämpfung des Terrorismus durch mehr Investitionen für Polizisten, Staatsanwälte und Richter. Für Schulz ist klar: „Innere Sicherheit ist eine Frage der Gerechtigkeit, nicht der Ideologie.“
Warnung an Erdogan
Europa will Schulz stark machen und sich für ein vereintes Europa einsetzen. „Diese Idee hat mich schon als Junge fasziniert, deswegen bin ich Politiker geworden.“ Dies betreffe nicht nur die Politik, sondern auch die Wirtschaft und Innovationskraft.
Auch für den türkischen Präsidenten Erdogan hat Schulz gerade vor dem Hintergrund der sogenannten Wahlempfehlung aus Ankara die passenden Worte: „Mäßigen Sie sich.“ Schulz macht dem Mann am Bosporus deutlich, dass die türkischstämmigen Bürger zu Deutschland gehören und fordert in Hinblick auf die in der Türkei inhaftierten Deutschen Erdogan auf: „Lassen Sie diese Menschen frei!“