
Ihre Wohnung in Berlin hat Katarina Barley schon im März gekündigt. Ein Foto der unterschriebenen Kündigung hat sie getwittert. Irgendwann hätten die ewigen Nachfragen, ob sie es denn wirklich ernst meine mit Brüssel, genervt. Barley meint es ernst. Nach der Europawahl am 26. Mai wird die Bundesjustizministerin der deutschen Hauptstadt den Rücken kehren und in die – inoffizielle – europäische ziehen. „Ich habe mein komplettes Leben auf das Europaparlament eingestellt“, sagt Barley. Es ist ein bisher einmaliger Vorgang. Nie zuvor hat ein Mitglied der Bundesregierung sein Amt aufgegeben, um ins Europäische Parlament zu wechseln. Warum macht Katarina Barley das?
Die Antwort gibt die 50-Jährige an einem Abend Anfang April. „Die überzeugtesten Europäerinnen und Europäer müssen jetzt nach Brüssel. Und das bin ich.“ Und so führt sie zusammen mit Udo Bullmann die Europaliste der SPD an. Der erfahrene Europaparlamentarier und die erfolgreiche Bundespolitikerin wollen die SPD stark für Europa machen.
Der Brexit trifft Barley persönlich
In Frühlingskleid und schwarzer Lederjacke sitzt Katarina Barley auf einer kleinen Bühne im Kleist-Saal der „Urania“, einer gemeinnützigen Bildungseinrichtung im Berliner Ortsteil Schöneberg. Das Publikum ist eher älter. Wer nicht Mitglied des Fördervereins ist, hat 11,50 Euro bezahlt, um die SPD-Spitzenkandidatin zu erleben. „Erfrischend europäisch“ lautet der Titel der Veranstaltung.
Barley gegenüber sitzt Stephan-Andreas Casdorff, Herausgeber des „Tagesspiegel“. Beide wurden in Köln geboren und haben einen ähnlichen Humor. „Wären Sie gerne Ministerin geblieben?“, will Casdorff wissen. „Es ist ja kein Geheimnis, dass ich nicht gleich Ja gesagt habe“, antwortet Barley. Letztlich hätten drei Dinge zu ihrer Kandidatur geführt: der Brexit, das Erstarken der Nationalisten und Populisten und die Situation der SPD. Als Tochter einer Deutschen und eines Briten tue ihr der bevorstehende EU-Austritt Großbritanniens „jeden Tag in der Seele weh“. Innerhalb und außerhalb der EU gebe es Kräfte, die die Staatengemeinschaft zerstören wollten. Und die SPD? „Es stört mich schon lange, dass wir deutlich unter Wert gehandelt werden. Deshalb möchte ich mit meiner Kandidatur auch dazu beitragen, dass die SPD wieder dort steht, wo sie hingehört.“
Abrüstung statt Flugzeugträger
Wenige Stunden, nachdem die britische Premierministerin Theresa May in Berlin für einen weiteren Aufschub des Brexits geworben hat, sitzt Katarina Barley in einer Kirche am Gendarmenmarkt. Es ist der 9. April. Die Hilfsorganisationen „Brot für die Welt“ und „Misereor“ sowie das Nachhaltigkeitsnetzwerk „SDSN“ der Vereinten Nationen haben die nationalen Spitzenkandidaten der großen Parteien zu einer Debatte eingeladen. Diskutiert wird in drei Runden jeweils eine halbe Stunde zu den Themen Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Per Twitter oder Karte können Fragen eigereicht werden, die dann von „Anwälten des Publikums“ den Politikern gestellt werden.
„Die EU muss eine Abrüstungsmacht sein“, fordert Katarina Barley. Deshalb halte sie auch nicht viel vom Ziel der NATO, dass jährlich zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts eines Landes in sein Militär fließen müssten. „Ausrüsten statt aufrüsten“ müsse die Devise lauten: ausreichend Geld also für die Armee, damit sie ihre Aufgaben erfüllen könne, aber keine milliardenteuren Rüstungsprojekte. Zwei Wochen zuvor hatte CDU-Chefin Annegret Kramp-Karrenbauer vorgeschlagen, einen gemeinsamen europäischen Flugzeugträger zu bauen – für 13 Milliarden Euro. „Der Haushalt meines Ministeriums beträgt eine Milliarde Euro pro Jahr“, rechnet Barley vor. Die zivile Krisenprävention müsse im Zentrum europäischer Politik stehen, die EU „Motor für Abrüstungsinitiativen werden“.
Beim Publikum kommt das an. Barley erhält viel Applaus. Auch im Bereich „Gerechtigkeit“ kann sie punkten. „Wer ein T-Shirt für 1,99 Euro anbietet, kann das nur, indem er Menschen ausbeutet“, sagt sie, als es um die Frage globaler Lieferketten geht. Wer ein Produkt herstelle und vertreibe, trage Verantwortung. Punkt. Aufgabe der Europäischen Union sei es, Unternehmen daran zu erinnern und bei Verstößen gegenzusteuern. „Wichtig ist dabei, dass wir den anderen Ländern als Partner auf Augenhöhe begegnen.“
Es geht auch anders
Wie schwierig das schon innerhalb der EU sein kann, erzählt Katarina Barley am selben Abend zwei Stunden später. Die Berliner SPD hat Betriebs- und Personalräte zu einem Arbeitnehmerempfang eingeladen. Als Barley die kleine Bühne betritt und sich neben die Berliner Europakandidatin stellt, lobt sie als erstes die „mega coole Location“, einen umgebauten Speicher an der Spree. Dann berichtet sie von den schwierigen Verhandlungen über eine Reform der europäischen Entsenderichtlinie. An der arbeitete Barley mit, als sie nach der Bundestagswahl 2017 für ein halbes Jahr nicht nur Familienministerin, sondern auch geschäftsführende Arbeits- und Sozialministerin war.
Die Richtlinie regelt, unter welchen Bedingungen Arbeitnehmer aus einem EU-Land in einem anderen arbeiten. Barley setzte sich damals für das Prinzip des gleichen Lohns für die gleiche Arbeit am gleichen Ort ein. „Wenn wir das vorher gehabt hätten, hätte es den Brexit nie gegeben“, sagt sie vor den Berliner Arbeitnehmervertretern. Die Angst vor billigen Arbeitskräften aus Osteuropa sei in Großbritannien sehr groß, der Brexit in manchen Gegenden als einziger Ausweg gesehen worden. „Wir haben in Deutschland oft den Ansatz, dass es alle anderen genauso machen müssen wie wir“, sagt Barley. An der Arbeit im Europäischen Parlament reize sie deshalb auch, zu sehen, „dass es auch anders geht“.
Udo Bullmann – Europäer aus Leidenschaft
Gut drei Wochen später auf dem Tbilisser Platz in Saarbrücken. Die SPD startet in die heiße Phase des Europawahlkampfs. Noch 23 Tage bis zur Wahl. Katarina Barley und Udo Bullmann stehen gemeinsam vor einer blauen Wand. „Kommt zusammen für ein starkes Europa!“ steht darauf. Die beiden Spitzenkandidaten treten nur selten gemeinsam auf, um mehr Termine absolvieren zu können.
Diese Europawahl sei eine besondere, schwört Bullmann das Publikum ein. „Diesmal geht es um alles.“ Ob Klimawandel oder Digitalisierung: „Im kleinen Nationalstaat werden die Dinge nicht mehr beherrschbar sein.“ Bullmann weiß, wovon er spricht. Vor 20 Jahren zog der Hesse erstmals ins Europaparlament ein, seit einem Jahr ist er Vorsitzender der sozialdemokratischen Fraktion. Er sei noch immer ein „Europäer aus Leidenschaft“. Die „schleichende Orbánisierung“ der Konservativen macht ihm deshalb Sorge. Auf die EVP sei kein Verlass mehr, eine Fortsetzung der – inoffiziellen – großen Koalition im Europaparlament daher mehr als fraglich. Für den Tag nach der Wahl stellt Bullmann deshalb schon klar: „Hinterzimmerdeals wird es mit mir nicht geben.“