
Der Egoismus grassiert in unserem Land. Überall kann man ihn im Alltag spüren. Der Gedanke, dass man selbst nur gewinnen kann, wenn man die anderen beiseitestößt, hat überhandgenommen. Man muss nur einen Saal voller Leute fragen, welcher Egoismus sie im Alltag stört und schon sprudelt es aus ihnen heraus. Ganz Deutschland hat die Schnauze voll von Falschparkern, Dränglern und Steuerhinterziehern. Es herrscht Überdruss über die Ich-Gesellschaft.
Doch noch immer fehlt eine politische Kraft, die in aller Deutlichkeit ausspricht, wonach sich Millionen Wählerinnen und Wähler sehnen: „Wir treten dem Egoismus entgegen!“ 90,7 Prozent der Deutschen sagen, der Egoismus zähle heute mehr als der Zusammenhalt. So deutlich steht es in der Vertrauensstudie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Ein Ergebnis, das die gesamte Politik aufhorchen lassen sollte.
Die SPD sollte den Egoismus klar als Gegner benennen
Der Egoismus ist ein Gegner, der wie gemacht ist für die SPD und dennoch schreckt sie davor zurück, ihn in aller Deutlichkeit als Gegner zu benennen. Nirgendwo hört man in den Talkshows und in den Bundestagsreden den Satz: „Unsere Politik geht gegen Egoismus vor.“
Der Grund dafür ist, dass wir uns selbst eingeredet haben, Politik dürfe nur positive Botschaften senden. Wir meinen zu wissen, dass Gegnerschaft zu gar nichts führt. Wahr ist das nicht. Jede überzeugende Politik braucht ihren Gegner. Denn nur, wenn man benennen kann, welches Problem man lösen will, ergeben auch die gewählten Maßnahmen einen Sinn. Was sind schon all die Fördergelder, Sozialleistungen und Programme wert, wenn nicht erkennbar wird, warum es sie überhaupt braucht.
Gegnerschaft weckt Leidenschaft
Wie wirksam das Mittel einer Gegnerschaft ist, konnte man in diesem Jahr zur Genüge miterleben. Wo die Bundespolitik eben noch müde wirkte, da entfaltete sie im Angesicht der Corona-Krise plötzlich all ihre Kraft. Angela Merkel hielt ihre erste große Ansprache ans Volk. Olaf Scholz holte sprachlich die wirtschaftspolitische Bazooka heraus und zum ersten Mal seit Jahren stiegen wieder die Zustimmungswerte für die große Koalition.
Gleiches auch beim Fall Tönnies. Donnernd redete der Arbeitsminister Hubertus Heil im Bundestag über die Missstände der Fleischereibranche und ging gesetzlich gegen sie vor. Die SPD fühlte sich so lebendig an wie lange nicht mehr. Die Gegnerschaft gegen einen Missstand setzt große Leidenschaft frei.
Auch die letzten drei großen Wahlsiege der SPD im Bund basierten auf einer klaren Gegnerschaft: 1998 trat die SPD gegen das ewige „Weiter so“ des Helmut Kohl und die daraus folgende ökonomische Krise an. 2002 mobilisierte Gerhard Schröder die Massen gegen den Irakkrieg und auch 2005 begann die fulminante Aufholjagd der SPD mit dem Widerstand gegen Merkels Schattenminister Paul Kirchhoff – den Professor aus Heidelberg – und seine Flat Tax.
Gegen den Egoismus in den Wahlkampf
Ein lautes „Nein!“ ist der Anfang jeder überzeugenden Politik. Das heißt nicht, dass man dauerhaft bei der Verneinung stehenbleiben muss. Man muss nicht pausenlos schlechte Stimmung verbreiten, um in der Politik erfolgreich zu sein. Aber man muss beständig wiederholen, warum die eigene Politik gebraucht wird, welches Problem sie löst.
„Wir treten dem Egoismus entgegen!“ könnte unsere Botschaft in jeder Stadt, in jedem Land und im Bund sein. Denn es stimmt, die Politik der SPD zielt darauf ab, die Kooperation zu fördern. Sie zielt darauf ab, dass nicht nur Einzelne sich bevorteilen können. Sie will starke Institutionen für alle, statt Vorteile für nur einen kleinen Teil. Damit diese Politik der SPD aber ihre Kraft entfalten kann, müssen wir erst den Gegner beschwören: den Egoismus.
Er gehört in jeden Satzanfang. Er gehört in jeden Talkshow-Auftritt, in jedes Interview und in jede Rede. Eine konsequente Problembeschreibung als Fundament, auf dem wir unsere Maßnahmen begründen, damit der innere Zusammenhang all der vielen Dinge, die die SPD erreicht, erkennbar wird.
Nur, wenn Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten benennen können, welches reale Problem unserer Gesellschaft sie lösen wollen – nur, wenn sie sagen können, welchen Gegner sie besiegen wollen, wird man sie wählen. Andernfalls gibt man die eigene Stimme einer Partei, die weiß, wogegen sie ist.
Ist Egoismus Sprengsatz oder Motor einer Gesellschaft? Und was kann die SPD ihm entgegensetzen? Darüber diskutiert Buchautor Erik Flügge mit dem SPD-Vorsitzenden Norbert Walter-Borjans am 28. Oktober ab 13 Uhr live auf Facebook. Das Buch: Erik Flügge: Egoismus. Wie wir dem Zwang entkommen, anderen zu schaden, Verlag J.H.W. Nachf. 2020, 10 Euro, ISBN 978-3-8012-0577-5Live-Diskussion auf Facebook
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