
Menschen mit Einwanderungsgeschichte müssen mit einer aktiven Ansprache umworben werden, sie sollten stärker in parteipolitischen Ämtern repräsentiert sein und Parteien müssen die Interessen von Einwanderergruppen effektiv vertreten. Zu diesen Ergebnissen kommt die aktuelle Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung, die sich mit dem Wahlverhalten der Menschen mit Einwanderungsgeschichte in Deutschland beschäftigt. Ein besonderer Fokus liegt dabei auf deren Bindung zu Parteien. Bei 7,4 Millionen Wahlberechtigten mit Einwanderungsgeschichte – laut Mikrozensus 2019 – eine entscheidende Frage, gerade wenn Wahlen knapp ausgehen, wie es vermutlich auch bei der anstehenden Bundestagswahl sein wird.
Menschen mit Einwanderungsgeschichte und die SPD
Eine Zusammenfassung der Studie im „Spiegel“ lautete „Die SPD hat offenbar viele Gastarbeiter verprellt“. Leider zu Recht. Denn während der Zuspruch der Menschen mit Einwanderungsgeschichte aus Südeuropa und der Türkei, ergo den klassischen Anwerberstaaten, für die SPD in den 1980er Jahren noch bei 76 Prozent lag, kommen wir heute leider nur noch auf 59 Prozent. Andere Studien stellen es sogar dramatischer dar. Dieser Trend ist aber nicht besonders verwunderlich, da der Bindungsverlust bei Wähler*innen ohne Einwanderungsgeschichte ziemlich ähnlich, d.h. parallel verläuft. Wir haben im gleichen Zeitraum bei diesen von ca. 45 Prozent auf fast ein Viertel abgebaut. Wieso sollte dieser Trend bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte auch anders aussehen?
Wie sieht es bei der Union aus? Ähnlich in Bezug auf den parallelen Verlauf zur gesamten Entwicklung der Bindung, jedoch deutlich weniger schmerzlich, da die Bindung bei Menschen mit Einwanderungsgeschichte bei der Union generell niedriger als bei denen ohne Einwanderungsgeschichte ist. Insbesondere Wähler*innen aus Osteuropa und der ehemaligen Sowjetunion haben eine stärkere politische Bindung zur Union. Diese liegt bei aktuell 54 Prozent. Der Zuspruch der Bürger*innen mit Wurzeln in der Türkei und Südeuropa stieg für die Union langsam, aber kontinuierlich von 13 auf 25 Prozent.
Wie gewinnt man Stimmen für die SPD?
Zwei Aspekte könnten den Bindungsschwund bei der SPD und den -zuwachs bei der Union u.a. erklären. Zum einen entwickelt sich die Bindung zu einer Partei parallel zum gesamten Trend. Gewinnt eine Partei an Zuspruch, gilt dies meist für alle Wähler*innengruppen, sowohl für die mit als auch für die ohne Einwanderungsgeschichte.
Zum anderen scheint sich bei Wähler*innen mit Einwanderungsgeschichte nach einer gewissen Zeit eine Normalisierung zu vollziehen. Sprich: Eine ohnehin vorhandene konservative Weltsicht führt auch irgendwann dazu, dass man eine konservativere Partei wählt. Wieso sollte man bspw. eine progressive Familienpolitik befürworten?
Losgelöst von der Problematik mit der Parteibindung, müssen wir Wege finden, die 7,4 Millioenn Wahlberechtigte für die SPD zu gewinnen – und vielleicht dadurch sogar wieder stärkere Bindungen aufzubauen. Das bedeutet:
- Verstehen der Einwanderungsgesellschaft: Einwanderungsgeschichte ist nicht gleich Einwanderungsgeschichte. Das zeigen die unterschiedlichen Bindungen nach Herkunftsländern sehr deutlich. Und geht man ins Detail ist sogar beispielsweise Türkeistämmig nicht gleich Türkeistämmig. So sind in dieser Gruppe viele stark gegensätzliche Weltansichten vertreten. So kann man keine Verallgemeinerung von konservativen AKP Sympathisant:innen mit Kurdischstämmigen, Menschen alevitischen Glaubens oder Laizist:innen vornehmen, da Weltansichten, Bedarfe und politische Wünsche sich gravierend unterscheiden.
- Mut zur Klarheit: die SPD orientierte sich in der Vergangenheit häufig an der Außenpolitik der Herkunftsstaaten und versuchte dadurch die Wähler:innen zu gewinnen. Ein fataler Fehler, da die Menschen ihr Leben in Deutschland verbringen und es unsere Aufgabe ist, mit Hilfe sozialdemokratischer Politik, den Rahmen für eine erfolgreiche Integration und gerechte Teilhabe zu schaffen. In der Außenpolitik sollten rein sozialdemokratische Werte die Linie bestimmen.
- Potentiale nutzen: Die Sozialdemokratie muss sich auch den Eingewanderten aus Osteuropa und den Ländern der ehemaligen Sowjetunion öffnen. Der Grundstein hierfür ist durch spannende Persönlichkeiten in der Mitgliedschaft gelegt. Diese gilt es in den Fokus zu rücken: Unsere Bundestagsabgeordnete Bela Bach, Bundestagskandidatin Natalie Pawlik oder Landtagskandida*:innen wie beispielsweise Irena Rudolph-Kokot, Igor Matviyets oder Oleg Shevchenko verdienen viel größere Unterstützung der Partei.
- Potentiale erarbeiten: Bindungen bauen sich über eine lange Zeit auf. Laut der Studie braucht es 15 Jahre um eine ähnliche Bindung, wie bei den Menschen ohne Einwanderungsgeschichte, aufzubauen. Daher muss man heute die Potentiale von morgen erkennen. Es kamen viele Menschen in den letzten Jahren auf der Flucht vor dem Krieg in Syrien. Behandeln wir sie von Tag eins wie neue Deutsche. Nicht nur aus strategischen Gründen, sondern weil es so ist. Und auch hier haben wir tolle Leute in der SPD wie Tarek Saad, der in Schleswig-Holstein für den Landtag kandidieren will.
- Wahlbeteiligung erhöhen: das Thema ist nicht im Blick der genannten Studie, aber wir wissen, dass die Wahlbeteiligung oft in Stadtteilen mit einem höheren Anteil an Menschen mit Einwanderungsgeschichte vergleichsweise niedrig ist. Das kann man durch gezielte und auch kreative Ansprache ändern und dadurch ein großes Potential heben. Gerade bei den anstehenden Wahlen.
40 SPD-Kandidat*innen haben Einwanderungsgeschichte
Thematisch sind wir mittlerweile bestens für unsere Einwanderungsgesellschaft aufgestellt: Wir sehen Menschen ohne Wenn und Aber als gleichberechtigte Teile unserer Gesellschaft und wollen sie mit einem modernen Staatsangehörigkeitsrecht auch rechtlich völlig gleich stellen. Viel schneller als heute und egal, ob sie eine weitere Staatsangehörigkeit besitzen oder nicht. Wir wollen alle Aufstiegshürden in unserer Gesellschaft abbauen und deshalb das Antidiskriminierungsrecht stärken. Und wir sagen, die staatlichen Institutionen müssen die gesellschaftliche Vielfalt auch wiederspiegeln, daher wollen wir ein Partizipationsgesetz, dass die interkulturelle Öffnung festschreibt.
Über 100 junge Kandidat*innen haben wir als großen Erfolgt verkauft, im Bereich der Vielfalt ist bei der Werbung mächtig Luft nach oben. Wir haben ein großes Potential innerhalb der Sozialdemokratie und verkaufen uns sehr schlecht. Dabei haben mindestens 40 Kandidat*innen für den Bundestag eine Einwanderungsgeschichte. Wenn nun die Rohdiamanten mit Einwanderungsgeschichte sichtbar in den vorderen Reihen der SPD platziert werden, dann sind Bindungen von 80 Prozent vielleicht auch in Zukunft wieder möglich.