
165 Seiten umfasst das Gutachten, das der Corona-Sachverständigenrat verfasst hat. Die Schutzmaßnahmen der Bundesregierung werden darin aus verschiedenen Blickwinkeln bewertet – medizinisch, ebenso wie juristisch, sozial und wirtschaftlich. Die Bewertung war mit Spannung erwartet worden, soll sie doch die Grundlage bilden für die Neufassung des Infektionsschutzgesetzes. Das aktuell gültige läuft am 23. September aus. Der Druck auf die Wissenschaftler*innen war also groß.
Eine gute Datengrundlage fehlt
Doch Helga Rübsamen-Schaeff, eine der beiden Vize-Vorsitzenden des Sachverständigenrats, muss gleich zu Anfang der Pressekonferenz in Berlin die Erwartungen dämpfen. Für klare Erkenntnisse und damit auch für Ratschläge für künftiges Handeln sei die Datenlage schlicht zu schlecht. Und das ist auch einer der Haupt-Kritikpunkte der Wissenschaftler*innen: Es hätten während der Pandemie von Anfang an stringenter Daten erhoben werden müssen. Andere Länder seien da deutlich besser.
Immerhin: Es sei nicht zu spät, das zu ändern, wie der Wirtschaftswissenschaftler Christoph Schmidt betont. Neben einer besseren Datenerhebung fordert er auch „Mut zur Stichprobe“. Auch die könne helfen, künftig bessere Daten zu erheben. Und doch haben die Wissenschaftler*innen in den vergangenen neun Monaten viele der ergriffenen Maßnahmen unter die Lupe genommen. Das Ergebnis fällt durchwachsen aus.
Ein Lockdown hilft – zu Anfang
Es bestehe „kein Zweifel, dass wir das Ansteckungsrisiko reduzieren, wenn wir Kontakte reduzieren“, sagt etwa der Virologe Hendrik Streeck. Das sei besonders sinnvoll, wenn es noch nicht so viele Infektionen in der Gesellschaft gebe. Die Wirkung von Lockdowns nehme aber ab, je mehr Menschen mit dem Virus infiziert seien. Und: „Lockdowns wirken nur, wenn die Menschen mitmachen“, betont Streeck. Wenn sie über einen zu langen Zeitraum angewendet würden, stelle sich schnell ein Ermüdungseffekt ein.
Das Timing spielt aus Sicht der Wissenschaftler*innen auch bei einer weiteren Maßnahme eine entscheidende Rolle: der 2G- bzw. 3G-Regelung, bei der nur Geimpfte oder Genesene (2G) bzw. Gestestete Zugang zu Veranstaltungen oder Innenräumen erhalten. „Der Effekt von 2G/3G-Maßnahmen ist bei den derzeitigen Varianten in den ersten Wochen nach der Boosterimpfung oder der Genesung hoch“, heißt es im Gutachten des Sachverständigenrats. Der Schutz vor einer Infektion lasse mit der Zeit jedoch deutlich nach.
Keine Aussage zu Impfungen
Über den Wert der Impfungen im Kampf gegen das Corona-Virus insgesamt äußert sich das Gremium nicht. Das sei bei der „Ständigen Impfkommission“ (Stiko) besser aufgehoben, betont Hendrik Streeck.
Eine deutliche Aussage trifft das Gremium dagegen über den Nutzen von Masken. „Masken sind ein wirksames Instrument in der Pandemiebekämpfung“, unterstreicht Virologe Streeck bei der Pressekonferenz. Entscheidend sei jedoch, dass sie auch richtig getragen würden. Hier sehen die Wissenschaftler*innen noch einen deutlichen Aufklärungsbedarf wie sie insgesamt eine bessere Kommunikation des Sinns von Schutzmaßnahmen empfehlen.
„Risikoprävention ist ein zentraler Baustein, um Vertrauen herzustellen und zu bewahren“, betont die Soziologin Jutta Allmendinger. „Es ist wichtig, dass wir schnell informieren.“ Ebenso wichtig sei, dass Maßnahmen nicht einfach verordnet, sondern auch erklärt würden – und dass auch abweichende Meinungen ernst genommen würden. „Hier hätten auch die Krankenkassen mehr tun können“, so Allmendinger.
SPD bewertet Gutachten positiv
Positiv reagiert die gesundheitspolitische Sprecherin der SPD-Bundestagsfraktion Heike Baehrens auf das Evaluation der Corona-Maßnahmen. „Ich bin froh, dass das Gutachten nun vorliegt“, sagt Baehrens im „Mittagsmagazin“ der ARD. Es werde eine wichtige Grundlage für die künftigen Corona-Maßnahmen ab Herbst sein. „Wir wollen die Isolation von Menschen ebenso vermeiden wie die Schließung von Kitas und Schulen“, betont Baehrens dabei und lässt durchblicken, dass das Tragen von Masken in Innenräumen ein zentraler Bestandteil der künftigen Schutzmaßnahmen werden könnte. Auch beim Impfen wolle man deutlich besser als bisher vorankommen. Der von Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach vorgelegte Sieben-Punkte-Plan sei hierfür eine gute Grundlage.