
Ich bin die erste in meiner Familie, die einen Hochschulabschluss erreicht hat. Daher weiß ich aus eigener Erfahrung, wie es ist, ohne Vorbild den Schritt aus der Komfortzone zu wagen. Dieser Weg ist nicht leicht, für manche stellt er eine unüberwindbare Hürde dar. Der Zugang zu höherer Bildung bedeutet die Chance auf Aufstieg und Teilhabe. Er ist Gradmesser für den persönlichen Erfolg, aber auch für den wirtschaftlichen Erfolg Deutschlands insgesamt und letztendlich für eine starke Demokratie.
Die Herkunft entscheidet über den Lebensweg
Der demografische Wandel sorgt dafür, dass wir in naher Zukunft viel mehr Fachkräfte brauchen werden. Deutschland kann es sich nicht leisten, auf dem Status quo zu verharren. Der Pisa-Schock 2001 brachte zutage, dass die Leistung der deutschen Schülerinnen und Schüler unter dem Durchschnitt lag. Die eigentliche Schocknachricht bestand jedoch in der Tatsache, dass in keinem anderen vergleichbaren Land die Leistungen so stark an die familiäre Herkunft gekoppelt waren wie in unserem. Die Sozialerhebung des Deutschen Studierendenwerks liefert eindeutige Zahlen: Von 100 Kindern aus nichtakademischen Familien nehmen nur 23 ein Studium auf, obwohl doppelt so viele das Abitur erreichen. Von 100 Akademikerkindern studieren dagegen 77.
Was sind die Ursachen? Bei uns fängt die Selektion nicht erst in der Hochschule an, sondern schon viel früher, in der Grundschule und der weiterführenden Schule. Bei vielen Kindern ist der spätere Weg schon in der Schule vorgezeichnet. Oft können die Eltern wenig oder gar nicht finanziell unterstützen. Schulden, die man mit BAföG aufnehmen würde, gelten jedoch oft als unstatthaft. Auch das Stipendienangebot ist vielen nicht bekannt.
Es fehlt Geld und Selbstvertrauen
Finanzielle Gründe wiegen schwer bei der Entscheidung für oder gegen ein Studium. Aber noch schwerer wiegt das geringe Selbstvertrauen in den akademischen Bildungsweg. Die Kinder aus nichtakademischen Elternhäusern trauen sich gar nicht erst zu, ein Studium aufzunehmen, sich um ein Stipendium zu bewerben. "Ich habe ja eh keine Chance", denken viele. Der akademische Habitus ist ihnen fremd, sie haben Angst, sich durch ein Studium von ihrer eigenen Familie zu entfernen.
Weil auch ich diese Erfahrung machen musste, habe ich schließlich ArbeiterKind.de gegründet. Mit dieser gemeinnützigen Organisation erreichen wir seit 2008 Ratsuchende über eine Website und ein Infotelefon. Über 7000 Ehrenamtliche in 75 lokalen ArbeiterKind.de-Gruppen ermutigen und unterstützen sie auf dem Weg ins Studium und anschließend in den Beruf. Das Prinzip ist sehr erfolgreich, da unsere Ehrenamtlichen oft selbst die Ersten ihrer Familie an einer Hochschule sind oder waren und die Probleme sehr genau kennen.
Flexible Bildungswege ermöglichen
Was ist der deutsche Traum? Was will die Gesellschaft erreichen? Während in anderen Ländern Bildung moderner, gerechter und flexibler aufgestellt ist, herrscht in Deutschland die Angst vor dem Scheitern, vor dem sozialen Abstieg. Wir denken nicht in Entwicklungen, sondern ordnen Menschen schnell ein, sortieren sie aus. Das Ergebnis sind starre, statische Bildungsverläufe, statt flexible und entwicklungsorientierte Ansätze zu verfolgen. Es fehlt ein klares Bekenntnis zur Chancengerechtigkeit in der Bildung und zum lebenslangen Lernen. Wir brauchen eine Bildungskultur, die Perspektiven aufzeigt und junge Menschen dazu anspornt, Herausforderungen anzunehmen und auch mal Risiken einzugehen. Wir brauchen ein Bekenntnis zum Bildungsaufstieg und zu einer breit angelegten Förderung für alle.
Die Politik muss die finanziellen Rahmenbedingungen verbessern, die Lücken in der Bildungsfinanzierung schließen. Und sie sollte einen Mentalitätswandel herbeiführen. Zu Zeiten Willy Brandts gab es eine Bildungseuphorie in Deutschland. Damals fühlten sich Schülerinnen und Schüler durch die Politik regelrecht aufgefordert, ihre Bildung voranzutreiben. Das kann man nicht verordnen, aber man kann mit gutem Beispiel vorangehen und klare Botschaften aussenden. Auf dem Videoportal www.ersteanderuni.de, das von ArbeiterKind.de initiiert wurde, erzählen Menschen ihre Bildungsgeschichte und machen anderen Mut. Auch viele politische Vertreter machen mit.
Hochschulen in die Verantwortung nehmen
An den Hochschulen herrscht oftmals die Angst vor Qualitätsverlusten, wenn man nicht mehr „unter sich“ ist. Dabei schafft eine größere Durchlässigkeit mehr Raum für unterschiedliche Potenziale, die sonst ungenutzt blieben. Die Hochschulen sollten die Studierenden der ersten Generation ohne akademische Tradition als Bereicherung und nicht als Belastung empfinden. Sie sollten sich verantwortlich fühlen für den Erfolg ihrer Studierenden und sie nicht, wie bisher, einfach nur verwalten. Finanzielle Unterstützung muss schnell und unbürokratisch gewährleistet werden. Wenn wir dahin kommen, dass Bildungskarrieren nicht mehr nur von Zufällen abhängen, dann sind wir einen großen Schritt weiter. Deutschland kann es sich nicht leisten, seine Potenziale zu verschenken.