Erklärung des SPD-Vorsitzenden

Warum Sigmar Gabriel auf die Kanzlerkandidatur verzichtet

Die Redaktion24. Januar 2017
Sigmar Gabriel: Es braucht einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition
Sigmar Gabriel: Es braucht einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition
Sigmar Gabriel verzichtet auf die Kanzlerkandidatur und gibt den SPD-Parteivorsitz ab. Stattdessen soll Martin Schulz als Spitzenkandidat und Parteichef in den Wahlkampf ziehen. Sigmar Gabriels Erklärung im Wortlaut

2017 ist ein Jahr der Weichenstellungen in Europa und in Deutschland. Die Bundestagwahl findet statt, in den Niederlanden und in Frankreich wird gewählt und ebenso in Nordrhein-Westfalen, im Saarland und in Schleswig-Holstein. Der neue amerikanische Präsident hat sein Amt angetreten. Es geht um die Frage, welche Richtung wir einschlagen: auf unserem Kontinent, in unserem Land und in unseren Beziehungen zu anderen Ländern, auch den USA.

Dieses Jahr ist anders als andere Wahljahre. Die Wahlbeteiligung bei der Bundestagswahl wird deutlich zunehmen und die Wählerinnen und Wähler werden sich erst spät entscheiden, wen sie unterstützen. Denn die Menschen fühlen: Es geht um die Richtung und um die Balance in Deutschland.

Worum es bei der Bundestagswahl 2017 geht

Es geht um die demokratische Substanz: Wie können wir durch mehr Gerechtigkeit, mehr Zusammenhalt, mehr Chancen und mehr Sicherheit den Glauben an die Gestaltungsfähigkeit von Politik und Gesellschaft und den Optimismus für Fortschritt erzeugen, die notwendig sind für die Zukunftsfähigkeit unseres Landes. Diese Richtungsfragen brauchen klare programmatische und personelle Alternativen. Die Menschen müssen erkennen, dass es wirkliche Alternativen in unserem Land gibt und Scheinlösungen eben keine Lösungen sind.

Und es geht um die Rolle und die Bedeutung der Sozialdemokratie. Wir müssen den Bürgerinnen und Bürgern deutlich machen: Der Demokratie in Deutschland ging es immer dann gut, wenn es der SPD gut ging. Die Sozialdemokratie ist der Garant für eine starke, gerechte, fortschrittliche und demokratische Gesellschaft, in der miteinander, nicht gegeneinander gearbeitet wird. Eine starke SPD ist nötig, um den Rechtspopulismus in Europa und Deutschland in seine Schranken zu weisen. Und sie ist die Voraussetzung dafür, dass die zentralen Themen der Zeit, nämlich mehr Gerechtigkeit, bessere Bildung, leistungsfähiger Sozialstaat, faire Steuern und Löhne, eine arbeitnehmer- und verbraucherorientierte Digitalisierung und eine moderne Familienpolitik entschieden angepackt werden.

Dafür ist ein Politikwechsel nötig, denn wir sind am Ende dessen angelangt, was man mit einer in sich zerstrittenen CDU/CSU machen kann. Die Aufgaben, vor denen wir stehen, sind unübersehbar:

  • Viel zu viele Menschen fühlen sich von demokratischer Politik nicht mehr angesprochen. 
  • Das weit verbreitete Misstrauen gegenüber der Politik, die keine Alternativen anbietet, sie erst recht nicht öffentlich diskutiert und sich nicht wirklich um die Sorgen vieler Menschen zu kümmern scheint, ist für Deutschland, für unser Gemeinwesen und unseren sozialen Zusammenhalt hochgefährlich. Wir wollen zeigen, dass es Alternativen zur gegenwärtigen Politik gibt – und zwar bessere.
  • Wir wollen beweisen, dass der Gegensatz zwischen denen „da oben“ und denen „hier unten“, zwischen arm und reich, zwischen einflussreich und machtlos überwunden werden kann. Unter einer sozialdemokratisch geführten Regierung gehört jeder dazu. Dafür werden wir kämpfen.
  • Die Gegensätze bestehen nicht nur in Deutschland, sondern noch mehr in Europa. Hier wird die Gefahr der Auflösung der EU immer deutlicher. Dem werden wir entschieden entgegensteuern.
  • Die bisherige Politik von Angela Merkel und Wolfgang Schäuble hat entscheidend zu den immer tieferen Krisen in der EU seit 2008, zur Isolierung einer dominanten deutschen Bundesregierung  und – durch das unerbittliche Festhalten an der Austeritäts-Politik – zur hoher Arbeitslosigkeit außerhalb von Deutschland beigetragen. Eine Folge davon war die Stärkung antieuropäischer populistischer Parteien und die Beschädigung nicht nur der Demokratie, sondern auch eines guten Investitionsklimas. Auch unsere Regierungsbeteiligung in der großen Koalition hat zwar manches mildern können, aber die grundsätzliche Korrektur dieses Kurses war und wird mit CDU und CSU nicht gelingen. Dafür muss die SPD deutlich stärker werden und die nächste Bundesregierung anführen. Eine Fortsetzung der bisherigen Politik ginge auf Kosten eines nachhaltigen Wachstums. Das ist auch für Deutschland selbst gefährlich.
  • Den Bürgerinnen und Bürgern muss wieder mehr Kontrolle über ihre Lebensverhältnisse zurückgegeben werden: Gestaltung von Arbeit, Bereitstellung von öffentlichen Gütern, Bildung, Gesundheit, bezahlbares Wohnen, Zeit für Familien, politisches Engagement, Vereine.
  • Wir wollen ein menschenfreundliches, Teilhabe und soziale Sicherung beförderndes Reformverständnis zurückgewinnen. Wirtschaftliche Höchstleistung nicht gegen die Menschen sondern zusammen mit ihnen; Teamarbeit, Mitbestimmung statt eines alles beherrschenden Wettbewerbes; gesellschaftlicher Zusammenhalt durch Stärkung institutioneller Solidarität; Tarifautonomie und unternehmensübergreifende Tarif-Bindung, verlässliche Sozial- und Arbeitslosenversicherungen.
  • Deutschland braucht einen Aufbruch, gegen die Verängstigung durch den Terror, gegen das Gefühl der Ohnmacht, gegen Mutlosigkeit und Resignation. Unser Ziel ist eine aktive freundliche Gesellschaft, in der Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität – in Deutschland, in Europa und global – zu wirklicher Sicherheit führen. Mauern und Stacheldraht, wie wir sie in Europa wieder hochziehen, werden sie auf Dauer nicht gründen. Sicherheit braucht die Freiheit und die Loyalität der Bürgerinnen und Bürger

Dies sind die Themen, für die die SPD 2017 geschlossen antreten wird. Wir machen damit deutlich, welchen Kurs unser Land nehmen soll: Uns geht es nicht um die Wenigen, die schon genug haben. Uns geht es um die Vielen, die sich immer wieder neuen Aufgaben und Herausforderungen stellen, und die dies mit großer Anstrengung und teilweise unter großen Entbehrungen tun. Diese Leistung muss wieder stärker ideell und materiell anerkannt werden. Dies muss wieder zur Richtschnur der Politik in Deutschland werden.

Wir wollen außerdem mehr Sicherheit für unsere Bürgerinnen und Bürger. Wir treten jeder Form von Terrorismus, aber auch von Ausgrenzung entgegen. Es geht um die richtige Balance von Freiheit und Sicherheit für alle, die in Deutschland leben und die die demokratischen Grundwerte unserer Gesellschaft teilen. Wir wollen offen, tolerant, aber auch wehrhaft sein. Im Interesse der Sicherheit unserer Bürgerinnen und Bürger.

Vorschlag für den SPD-Kanzlerkandidaten

Ich habe in und außerhalb der SPD  in den letzten Wochen mit vielen Menschen gesprochen und mich auch mit der SPD-Führung intensiv beraten, mit welchem personellen Angebot wir in diese so wichtige Richtungsauseinandersetzung gehen. Natürlich sind das unsere erfolgreichen SPD-Mitglieder im Bundeskabinett. Sie waren die Motoren der Regierungsarbeit der letzten mehr als drei Jahre. Gemeinsam mit den SPD-Bundestagsabgeordneten und den Wahlkreiskandidatinnen und -kandidaten treten wir für keine Koalition und für keine taktischen Überlegungen an, sondern für „150 Prozent“ Sozialdemokratie.

Dafür brauchen wir auch eine Person, die diesen Wahlkampf glaubwürdig repräsentiert und mit der wir die nächste Bundesregierung anführen und Angela Merkel und ihre zerstrittenen Parteien CDU und CSU ablösen wollen. Deshalb schlage ich vor, Martin Schulz als SPD-Kanzlerkandidaten für die Bundestagswahl 2017 zu nominieren und auf einem Parteitag wählen zu lassen. Und weil die Führung der SPD eindeutig und klar sein muss, schlage ich ihn auch als neuen Vorsitzenden der SPD vor.

Für einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition

Martin Schulz genießt durch seine einzigartige Arbeit als Präsident des Europäischen Parlamentes, sein jahrzehntelanges Engagement gegen Rechtspopulismus und sein Eintreten für soziale Gerechtigkeit, Demokratie und gesellschaftlichen Zusammenhalt in Europa eine große Glaubwürdigkeit. Seine Kandidatur für das Amt des deutschen Bundeskanzlers und die Übernahme des Parteivorsitzes der SPD dokumentieren unseren Willen für einen echten Neubeginn in Deutschland und Europa. Unser Land, aber auch unser Kontinent müssen den Angriffen der neuen US-Regierung selbstbewusst entgegentreten.

Dafür müssen wir Deutschland und Europa neu einigen. Wir haben in dieser Legislaturperiode damit begonnen. Aber wir müssen erkennen: Die Zusammenarbeit mit CDU und CSU hat ihre Grenzen erreicht. Statt in die Zukunft zu investieren, werden unhaltbare Wahlversprechen auf Steuersenkungen gemacht. Statt die wachsende soziale Spaltung in Deutschland zu stoppen und für mehr Gerechtigkeit zu sorgen, herrscht ideologische Blockade. Am schlimmsten aber ist die Lage in Europa: Bei allen Verdiensten Angela Merkels, die sie unbestreitbar hat, trägt sie doch gemeinsam mit ihrem Finanzminister Wolfgang Schäuble die Hauptverantwortung für die innere Spaltung der Europäischen Union. Wer wie Angela Merkel zwölf Jahre den Anspruch erhebt, die Europäische Union wirtschaftlich und politisch zu führen, der muss auch die Verantwortung für das schlimme Ergebnis dieser Politik übernehmen. Kein deutscher Bundeskanzler vor ihr hätte eine so große wirtschaftliche, soziale und politische Spaltung riskiert.

Es braucht also einen glaubwürdigen Neuanfang zur großen Koalition. Und den repräsentiert Martin Schulz in der deutschen Öffentlichkeit mehr als jeder andere von uns.

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Kommentare

Martin Schulz - Nach der EU-Demontage ist jetzt die SPD dran

Liebe Genossinnen und Genossen, mein Albtraum wird wahr. MS stellt sich gegen Mutti und will Kanzler werden. Nachdem er erfolgreich die EU abzuwirtschaften geholfen hat, wird er jetzt die schwächelnde SPD leeren, was Existenzangst wirklich heißt. Klar war Sigmar Gabriel nicht Everybody's Darling. Aber er ist wenigstens ein Typ mit Ecken und Kanten. Kein solch weichgespülter Hörbuchsprecher. Ich bin wirklich verzweifelt...

"lehren"

... es muss natürlich "lehren" heißen. Ich bitte um Nachsicht.

Erklärung des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel

Ich kann Sigmar Gabriel durchaus verstehen.

Die acht Aufgabenpunkte finden meine volle Zustimmung, jedoch standen diese Aufgaben bereits vor der letzten Bundestagswahl an. Insbesondere hatte ich vor und nach der Wahl vor einer Koalition mit Merkel und Schäuble gerade aufgrund deren Politik gewarnt und deshalb gegen die GroKo gestimmt; meine Befürchtungen haben sich bestätigt.

Vor allem hätte die SPD 2013 noch durchaus eine R2G-Koalition führen können, die Mehrheit wäre zwar knapp,aber vorhanden gewesen. Vor allem aber hätten zentrale Punkte des damaligen Wahlprogramms umgesetzt werden können, die dann aber von der Union zusammengestutzt wurden: So beim Mindestlohn, bei der Mietpreisbremse, bei der Steuerpolitik etc. Auf diese Weise wäre die AfD auch nicht so stark geworden, und die Chance auf eine Fortsetzung einer solchen Koaltion auf einer größeren Basis wäre weit größer gewesen als jetzt.

Es bedarf nun gewaltiger Anstrengungen und auch klarer Worte in der Regierung, um das Ruder herumzureißen; hierin kann man sich ein Beispiel sogar an der CSU nehmen, die ihre Forderungen stets mit Drohungen durchgesetzt hat.

Kanzlerkandidat

Damit wird mir die Wahl erleichtert.Den richtigen zukünftigen Kanzler zu wählen.Europa hat sich isoliert und nach dem Zusammenbruch der fehlenden Regierungen in Nordafrika nicht nach guten Ansprechpartnern gesucht und nur abgeschottet,den Erfolg sieht und spürt man in der Isolation.Es muss auf hören das sich einige Länder in Europa ständig um die nationalen Belange kümmert und in den Vordergrund stellt.Wir brauchen eine einheitliche Europa und nicht mehr die einzelne Armeen.Keine Eingrenzung in Wirtschaftliche Belange an Europas Grenzen.( Über den Tellerrand schauen)Einheitliches gesamt Europa nicht nur als Staatenverbund sondern als einheitlicher demokratischer Staat damit endlich der ewige Krieg Dein Mein auf hört.Die jetzigen Länder als juristisch dem Europa mit eine Verfassung ähnlich unserer unterstellt sind,also ein Europa in Wort und Gesetz damit die Nachkommen nicht mehr die Nationalen Orientierungen brauchen.

Umstände unglücklich

Sigmar Gabriel hat in den letzten Wochen durch verschiedene Aktivitäten, Interviews und Statements den Eindruck gemacht, die Kanzlerkandidatur übernehmen zu wollen. Die Gründe, warum er doch verzichtet, sind zumindest nachvollziehbar und durchaus ehrenwert.

Die Art, wie dies jetzt bekannt wurde, ist aber fatal und erinnert stark an die beiden letzten Bundestagswahlen, wo es bei der Verkündigung ebenfalls kommunikative Desaster gab. Die Abgabe des Vorsitzes macht Sinn, und es ist besser, wenn der Spitzenkandidat nicht auch Vizekanzler ist.

Der Wechsel ins AA ist aber unglücklich, und wirkt deplatziert. Gleichzeitig ist es nicht gut, dass die Frage der Kandidatur von 2 (älteren, weißen, heterosexuellen) Männern ausgekungelt wurde. Wir haben auch gute Frauen und Jüngere in unserer Partei (die Gruppen, bei denen wir bei Wahlen regelmäßig schlecht abschneiden). Gerade, weil Sigmar Gabriel immer betont hat, wir sind eine Mitmach-Partei, ist das einfach daneben.

Die Erklärung ist inhaltlich gut; aber niemand ist so naiv und glaubt, dass an einem solchen Tag die Leute oder Medien sich mit diesen Inhalten befassen werden.

Kanzlerkandidat Schulz

ich hoffe das es nicht wie bei Schroeder Agenda 2010 or Hartz 4 gibt, die gegen jeden SPD Verstand zustande gekommen sind, hier die ehemalige Arbeiter Partei die gegen ihresgleichen geht.
Der Verlust der Waehler hat viel damit zu tun. Wacht auf SPD und erinnert euch an die Arbeiter und Arbeitnehmer die ihr vertreten sollt.
Herrn Schulz wuensche ich das glueckliche Haendchen die Faeden wieder zusammen zu ziehen und zurueck zur Arbeiterpartei zu finden in dieser so unsicheren Welt.

richtiger Befund, falsche Therapie

Es ist mir ein Rätsel, wie man die Probleme und Aufgaben fast alle richtig benennen kann und dann zu so einem Fazit gelangt. Jetzt haben wir eine andere Person aber Anspruch und tatsächlicher Inhalt der Politik könnten nicht weiter auseinander liegen. Dass mit der Union die angeblich erwünschten Ziele nicht erreichbar sind war bereits vor der ersten Auflage der GroKo klar. Trotzdem hat man sich nicht nur darauf eingelassen sondern eine zweite Auflage gemacht. Jetzt weigert man sich nach wie vor, mit der Linken zusammen zu arbeiten, will aber angeblich den Kanzler stellen. Ja wer soll den Herrn Schulz denn bitte zum Kanzler wählen zumal der ja wohl kaum für einen sozialdemokratischen Neuanfang steht. Der liegt doch voll auf der politischen Linie der letzten Jahre. Hier soll ganz offensichtlich ein Lagerwahlkampf inszeniert werden, der in Wirklichkeit gar nicht stattfindet.

Aufbruch

Die Demokratie ist bedroht, weil man sich daran als Normalzustand gewöhnt hat und viele sie als selbstverständlich betrachten.

--> Wer in der Demokratie schläft, wacht in einer Diktatur auf.

Wie das funktioniert kann man in der Geschichte nachlesen. Krieg wollen die, die daran verdienen. Bezahlt wird es von den "einfachen Menschen" mit Not, Hunger und Tod.
In Frieden und Freiheit mit Würde in Deutschland zu leben muss Aufgabe und Ziel eines jeden Demokraten sein. Zivilcourage, Mut und Engagement sind gefordert, um unsere Zukunft zu sichern.
Orientierung gibt unser Grundgesetz. Das sind wenige Regeln, die gelebt werden müssen. Mit Martin Schulz hat sich ein Mutmacher und Impulsgeber mit großem Engagement und brennendem Herzen auf den Weg gemacht, nicht nur in das Kanzleramt einzuziehen, sondern Deutschland ein Stück gerechter zu machen.