Sein großer Roman „Die Deutschstunde“ erscheint 1968. Ein Jahr bevor Willy Brandt zum ersten sozialdemokratischen Bundeskanzler der noch jungen Bundesrepublik Deutschland gewählt wird. Siegfried Lenz ist 42 Jahre alt. Er unterstützt die Entspannungspolitik des neun Jahre älteren Kanzlers. „Die Deutschstunde“ wird der erste große Erfolg von Lenz. Die Ostpolitik der große Erfolg von Brandt.
Die beiden Männer mögen und schätzen sich. Lenz gehört wie Günter Grass, die Gräfin Marion Dönhoff, Bertold Beitz und Hermann Schreiber zur Delegation, die Anfang Dezember 1970 zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrages in die polnische Hauptstadt fliegt. Siegfried Lenz ist fast genau 44 Jahre nach jener denkwürdigen Reise gestorben. Im Alter von 88 Jahren, im Kreis seiner Familie.
Krieg, Gefangenschaft und Studium in Hamburg
Was für ein Werk dieser bedeutende deutsche Schriftsteller hinterlässt! Novellen, Dramen, Hörspiele, 120 Erzählungen und 14 Romane, übersetzt in mehr als 20 Sprachen. Die Gesamtauflage liegt bei über 25 Millionen Exemplaren. Darunter sind großartige Bücher: „So zärtlich war Suleiken“ (1955), „Heimatmuseum“ (1978), „Schweigeminute“ (2008) und in diesem Jahr „Gelegenheit zum Staunen“.
Knapp 20 Jahre alt ist Siegfried Lenz im Mai 1945, als im ruinierten Deutschland nicht mehr geschossen und gemordet wird. Er war bei der Kriegsmarine, ist im April 1945 desertiert, kurz in Gefangenschaft gekommen. In seinen ostpreußischen Geburtsort Lyck kann er nicht zurück. Dort stehen die sowjetischen Truppen. Er geht nach Hamburg und studiert Literaturwissenschaft, Philosophie, Anglistik. „Es waren Habichte in der Luft“ heißt sein erster Roman, der 1951 erscheint.
Erzähler ohne erhobenen Zeigefinger
Der junge Lenz will schreiben und veröffentlicht fast jährlich, bis ins hohe Alter. Dieses Jahr erscheint, postum, der Band „Gelegenheit zum Staunen“ mit seinen wichtigsten Essays aus fünf Jahrzehnten. Erst vor kurzem ist im Verlag Hoffmann und Campe „Schmidt – Lenz. Geschichte einer Freundschaft“ herausgekommen. Der Literaturwissenschaftler Jörg Magenau gibt darin ein langes Gespräch zwischen den beiden Männern wieder. Es ist ein sehr gut bebildertes Buch geworden, mit unveröffentlichtem Material. Es wird auch auf der Frankfurter Buchmesse vorgestellt, am Freitag, 10. Oktober, auf dem vorwärts-Stand um 16.30 Uhr.
Dieser wunderbare und leidenschaftliche Erzähler ist jemand gewesen, dem eine weit verbreitete sehr deutsche Haltung fehlte: Der erhobene Zeigefinger. Und wie alle Humanisten war er ein Moralist, der sehr genau und einfühlsam erzählen und schreiben konnte. Ein konzentrierter Zuhörer und ein genauer Betrachter. Er mochte die Menschen und er mochte das Meer. Er war ein sehr politischer Mensch. Einer, der sich für das Zeitgeschehen interessierte.
Ein letzter Blick, zurück in die Tage Anfang Dezember 1970. Vor dem Flug in der Kanzlermaschine nach Warschau. Siegfried Lenz bekommt drohende, üble Briefe unter anderem von einem Mann, der 1929 in Königsberg geboren wurde und „Die Deutschstunde“ liebt. Dieser Mann schreibt dem Autor unter anderem von einer „verantwortungslosen Schau einer gewissenlosen Regierung. Ich bitte Sie, begehen sie als Ostpreuße nicht diesen Verrat an unserer Heimat und unserem Volk“. Siegfried Lenz hat sich nicht einschüchtern lassen. Er hatte eine fröhliche Behutsamkeit und Eindeutigkeit. Von der hat er nie abgelassen.