
Das politische Interesse unter den Jugendlichen hat sich laut der aktuellen Shell-Jugendstudie auf einem hohen Niveau stabilisiert. Ist die Zeit der desinteressierten Jugendlichen erstmal vorbei?
Das sieht im Moment so aus. Meist halten solche Trends 10, 15 Jahre an. Wenn man genauer hinschaut, merkt man: Sie hängen zusammen mit der beruflichen Chancenlage der jungen Generation. Wer damit rechnen kann, dass er oder sie in Ausbildung und Beruf kommt, dann werden Kräfte frei um sich nicht nur um die eigene Karriere und die materielle Absicherung zu kümmern. Dann ist Zeit dafür, den Blick zu heben und zu schauen, wo wir als Gesellschaft insgesamt stehen. Das erleben wir gerade. Es geht um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenlebens bis hin zur zum ökologischen Gleichgewicht auf der ganzen Welt.
Unterscheiden sich die politischen Interessen der Jugendlichen von denen der Erwachsenen?
Es geht inzwischen nicht mehr um klassisch linke oder rechte Ideologien. Es geht um Weltoffenheit, Ökologie, eine vielfältige, bunte Gesellschaft auf der einen Seite und auf der anderen Seite um Sicherheit, Nationalismus und die Einschränkung von Zuwanderung. Das kommt den Grünen auf der einen Seite und der AfD auf der anderen Seite zu Gute. Es gibt also eine Verschiebung im politischen Spektrum. Wenn das an der SPD und der CDU vorbeigeht, wird es für diese Parteien schwierig, die Jugend zu erreichen. Generell ist außerdem das politische Interesse bei den jungen Frauen und Mädchen deutlich gestiegen.
Ist die SPD für die Jugendlichen uninteressant geworden, weil die klassischen SPD-Themen wie Arbeit und soziale Absicherung gerade uninteressant sind?
Keineswegs. Die SPD muss die Themen nur glaubwürdig besetzen. Die junge Generation besteht nicht nur aus sehr gut gebildeten Jugendlichen, für die die Sicherung der natürlichen Grundlagen im Vordergrund stehen. Es gibt auch eine Gruppe, die durchschnittlich gut gebildet ist und vielfältige Interessen hat. Bei denen ist zwar eine Sympathie für den Klimaschutz da, aber es rücken andere Themen wie Gerechtigkeit, soziale Sicherheit und physische Sicherheit, also zum Beispiel der Schutz vor Terroranschlägen, in den Mittelpunkt. Das sind Themen, die einer sozialdemokratischen Partei sehr gut zu Gesicht stehen. Die sollten glaubwürdig erschlossen werden, denn Jugendliche registrieren schnell, ob etwas nur taktisch besetzt wird.
Für die Shell-Jugendstudie werden Jugendliche im Alter von 12 bis 25 Jahren befragt. Seit 1953 werden dafür unabhängige Wissenschaftler beauftragt. Abgefragt werden verschiedene Themen vom Familienbild, Schulbildung und Berufswunsch bis hin zu politischen Interessen, Wertvorstellungen und Zukunftsperspektiven. Alle vier Jahre wird eine neue Studie veröffentlicht und auch mit den vorigen Publikationen verglichen. Die aktuelle Studie wurde im Oktober 2019 veröffentlicht unter der Überschrift „Eine Generation meldet sich zu Wort“. Eine Zusammenfassung ist auf der Internetseite der Studie zum kostenlosen Download verfügbar, die ganze Studie kann dort ebenso kostenpflichtig bestellt werden. Die aktuellen Autoren sind: Prof. Dr. Mathias Albert, Prof. Dr. Klaus Hurrelmann, Prof. Dr. Gudrun Quenzel, Ulrich Schneekloth, Ingo Leven, Sabine Wolfert, Hilde Utzmann.Die Shell-Jugendstudie
Außerdem gibt es noch diejenigen, die sich abgehängt fühlen. Das sind überwiegend junge Männer, die wenn überhaupt nur niedrige Schulabschlüsse geschafft haben. Da rückt die materielle Absicherung in den Vordergrund. Das wird sehr schnell von Parteien wie der AfD mit rechtspopulistischen Positionen aufgegriffen. Aber das ist keine verfestigte, rechtsorientierte Gruppe. Es steht nirgendwo geschrieben, dass eine SPD diese jungen Erwachsenen nicht ansprechen kann. Viele Jugendlichen aus dieser Gruppe sind verunsichert, haben das Gefühl, dass man sich nicht um sie kümmert. Für eine sensible, kluge SPD-Politik wären sie voll ansprechbar. Das ist in den vergangenen Jahren aber nicht gelungen.
Die SPD hat also eigentlich die richtigen Themen, müsste sie nur glaubwürdiger vertreten?
Der Schlüssel für die SPD ist aktuell die Verknüpfung von sozialer und physischer Sicherheit. Das wird derzeit nur mit der heißen, langen Nadel angefasst, ist aber eigentlich ein ureigenes SPD-Thema. Denn je niedriger die Jugendlichen ihren sozialen Status bewerten, desto stärker fühlen sie sich verunsichert. Desto kritischer schauen sie darauf, wie viele Menschen zuwandern, wie die Sozialsysteme in Deutschland mit diesen Menschen und mit ihnen selber umgehen. Das zu einem politischen Tabu zu erklären und einer rechtspopulistischen Partei zu überlassen, ist fahrlässig.
Politisch aktive Jugendliche sind derzeit vor allem am Freitag auf der Straße unterwegs. Warum engagieren sich diese Menschen nicht stattdessen in den Parteien?
Weil sie das Gefühl haben, dass sie so erfolgreicher sind. Objektiv stimmt das ja auch: Innerhalb von einem Jahr hat die Bewegung „Fridays for Future“ es geschafft, die politische Agenda zu drehen. Es gelingt ihnen sogar, eine Bundesregierung vor sich her zu treiben. Wenn man die Jugendlichen fragt, ob sie das nicht auch innerhalb einer Partei erreicht hätten, schütteln sie zu Recht den Kopf.
Warum zu Recht?
Weil sie innerhalb einer Partei in einem Jahr nicht so eine Wirkung erzielt hätten. Das liegt an der Arbeitsweise von Parteien. Diese Jugendlichen wären in den Parteien eine kleine Gruppe unter vielen gewesen, müssten sich in langfristigen Diskussionen durchsetzen, Parteitagsbeschlüsse einbringen, die Regierungspolitik beeinflussen. Das ist ein sehr langer Prozess, gar nicht richtig berechenbar. Der notwendige öffentliche Druck lässt sich so nicht herstellen.
Misstrauen gegenüber Parteien weit verbreitet
Insofern ist die Kritik berechtigt, dass die heutigen Parteien auf wichtige Herausforderungen nicht in der Form und Schnelligkeit reagieren, wie es notwendig ist. Das wird an der Klimapolitik immer wieder deutlich. Diese grundsätzliche Kritik wird zwar vor allem von den politisch sehr aktiven Jugendlichen geäußert, das Misstrauen gegenüber Parteien und Politikern gibt es aber auch in den anderen Gruppen.
Was könnte die SPD dagegen unternehmen? Manche Verfahren brauchen im demokratischen System ja nun mal etwas Zeit.
Ich bin sehr für eine Jugendquote. Die Parteien müssten eine Selbstverpflichtung unterschreiben, dass bei den nächsten Wahlen beispielsweise 30 Prozent der Kandidaten höchstens 30 Jahre alt sind – wie eine Frauenquote. Dadurch müssen sich die Parteien automatisch um die Jugendlichen bemühen. Wenn der Nachwuchs dann nicht mehr nur eine Minderheit ist, müssen sich die Jugendlichen nicht mehr den alten Traditionen unterwerfen. Außerdem würden die Jugendlichen dann ihre eigenen Erfahrungen mit den Sachzwängen machen, die es in unserem System eben gibt: Kompromisse schließen, aushandeln, auch mal geheim verhandeln. Das muss die junge Generation selber erfahren und nicht von den Alten gesagt bekommen.
Es wäre außerdem eine gute Geste, das Wahlalter auf 16 abzusenken. Ich bin froh, dass die Familienministerin die Diskussion darüber aufgegriffen hat. Bei unserem Bildungssystem und der schnellen Persönlichkeitsentwicklung, die wir inzwischen beobachten, sind die Jungen und Mädchen im Grunde sogar schon mit zwölf Jahren in der Lage zu wählen. Das würde auch den jungen Frauen entgegenkommen, die gerade politisch erwachen.
Dr. Klaus Hurrelmann ist am Montag, 28. Oktober, auch bei der Veranstaltung der Friedrich-Ebert-Stiftung in Berlin zu Gast. Ab 18 Uhr geht es unter dem Motto „Jung, laut und politisch!?“ ebenfalls um die Ergebnisse aus der aktuellen Jugendstudie. Auf dem Podium ist unter anderem die SPD-Europaabgeordnete und stellvertretende Juso-Bundesvorsitzende Delara Burkhardt zu Gast. Um Anmeldung wird gebeten.