Gastbeitrag

Serpil Midyatli: Warum die SPD für die 30-Stunden-Woche eintreten sollte

Serpil Midyatli01. Oktober 2020
Die Arbeitswelt hat sich im Jahr 2020 gewandelt. Arbeitszeitverkürzung und Homeoffice stehen im Zentrum einer Debatte, der sich die SPD annehmen sollte. Ein Gastbeitrag von Serpil Midyatli.

Veränderungen entwickeln sich lange schleichend und dann sprunghaft. 2020 ist so ein Wendepunkt. Während vor einem Jahr nur wenige Exot*innen regelmäßig von zu Hause oder unterwegs gearbeitet haben, hat inzwischen über ein Viertel der Beschäftigten in Deutschland diese Erfahrung gemacht. Laufende Trends wie die Verlagerung unseres Konsums in das Internet oder die zunehmende Digitalisierung und Automatisierung von Arbeitsprozessen sind uns in den letzten Monaten mit Siebenmeilenstiefeln enteilt.

Die Sozialdemokratie sollte nicht den Fehler machen und sich diesen Entwicklungen grundsätzlich entgegenstemmen. Wir tun gut daran, Veränderung zu wollen. Sie verheißt immer auch Verbesserungen. Dabei ist klar, dass sich diese Verbesserung nicht von alleine einstellt. Damit meine ich: Wenn sich Arbeit grundlegend verändert, muss sich auch die Partei der Arbeit neu erfinden und ihre bisherigen Antworten in diesem Politikfeld zumindest kritisch prüfen. Dafür will ich zwei konkrete Ansätze skizzieren.

Arbeitszeitverkürzung als historische Aufgabe der Sozialdemokratie neu beleben

Einige haben uns in Schleswig-Holstein für Spinner gehalten, als wir im Juni eine Debatte zur 30-Stunden-Woche gestartet haben. Dabei begleitet Arbeitszeitverkürzung die Sozialdemokratie seit ihrer Gründung. Damals war eine wöchentliche Arbeitszeit von 70 Stunden normal. Im Jahr 1918 haben wir den Acht-Stunden-Tag eingeführt. Ab den 1960er Jahren hat sich dann Branche für Branche die 5-Tage-Woche durchgesetzt. Ich finde es folgerichtig, das heute weiterzudenken.

Mit Freunden in meinem Alter habe ich oft dasselbe Thema: Job, Kinder, Ehrenamt und Hobbys – wie soll ich das alles unter einen Hut bekommen? Ganz ehrlich: Das geht nicht! Ich selbst könnte meine Arbeit so nicht machen, wenn mein Mann nicht Zuhause bliebe. Das kann aber nicht die Lösung sein! Fakt ist: Partnerschaftliche Erziehung ist nicht vereinbar mit einer Welt, in der beide Partner in der Regel 40 Stunden arbeiten sollen.

Zwei Mal 30 ist mehr als einmal 40

Damit begegne ich auch gerne dem Einwand, dass einer 30-Stunden-Woche nicht bezahlbar ist. In den 1960er Jahren reichte schließlich ein Gehalt, das in 40 Stunden erarbeitet wurde, für eine Familie. Heute sind es häufig zwei Gehälter mit 40 Stunden. Warum sollen dann zweimal 30 Stunden unmöglich sein? Dann arbeiten Familien immer noch 20 Stunden mehr als vor 60 Jahren.

Ich weiß auch, dass wir dieses Ziel nicht sofort erreichen. Das gilt übrigens für die meisten unserer Forderungen. Häufig sind wir schon einen Schritt weiter als die Gesellschaft, in der wir Politik machen. Mit der Familien- oder der Pflegearbeitszeit haben wir zudem Konzepte, die im aktuellen System Brücken zur Arbeitszeitreduktion bauen. Auch in Tarifverhandlungen sehen wir, dass sich Beschäftigte zunehmend für mehr Zeit anstelle eines höheren Gehaltes entscheiden. Klasse finde ich auch Beispiele wie das der Firma Riecke im Kreis Dithmarschen. Dieser Handwerksbetrieb hat die Vier-Tage-Woche bei 37 Arbeitsstunden eingeführt. Dadurch bekommen sie die dringend benötigen Fachkräfte. Die Beispiele zeigen, auch kurzfristig ist viel mehr Kreativität möglich.

Homeoffice braucht Regeln

Mein zweiter Vorschlag zielt auf Arbeit im Homeoffice Wir haben heute die technischen Möglichkeiten, dass viele Berufe teilweise von zu Hause erledigt werden können. Beschäftige sparen dadurch Zeit und Emissionen auf dem Arbeitsweg, können sich Arbeit flexibler einteilen und somit Berufs- und Privatleben besser vereinbaren.

Davon sollen möglichst viele profitieren. Deshalb brauchen wir ein Recht auf Homeoffice. Einen Vorschlag dazu wird Hubertus Heil noch in diesem Jahr vorlegen. Gleichzeitig muss der Arbeitsschutz natürlich weiter gelten. Das betrifft die Ausstattung des heimischen Arbeitsplatzes. Es gilt aber auch für ein Recht auf Nicht-Erreichbarkeit. Die Möglichkeit Zuhause zu arbeiten bedeutet nicht, dass man permanent arbeitet. Das müssen wir zusammen regeln.

Zwei zusätzliche Urlaubstage

Zudem dürfen wir nicht die Augen davor verschließen, dass viele Menschen auch langfristig nicht von zu Hause arbeiten können. Häufig sind das besonders fordernde Tätigkeiten in der Produktion oder bei der Arbeit mit Menschen. Wer aufgrund der Beschaffenheit seiner Tätigkeit nicht von zu Hause arbeiten kann, sollte deshalb zwei zusätzliche Urlaubstage erhalten. So gewinnen alle Beschäftigten mehr Zeitautonomie.

weiterführender Artikel

Kommentare

30 - Stunden - Woche

Die hochwichtige Frage des Lohnausgleichs wurde nur unzureichend behandelt. Wer sich zu diesem Thema fundiert informieren will, dem ist das Heft 9-2020 Sozialismus.de zu empfehlen. Dort sind zwei sachkundige Beiträge zum Thema zu finden: 1. 'Vier-Tage-Woche' von Otto König und Richard Detje (ab S. 47) und 2. 'Kollektive Arbeitszeitverkürzung ist lange überfällig' von Heinz-J.Bontrup (ab S. 51). König und Detje schließen mit den Sätzen: "Die Neuverteilung der Arbeitszeit gehört auf die Tagesordnung. Aber nicht als betriebliches Optionsmodell bei reduzierten Entgelten. Der Weg aus der Krise darf nicht erneut zu entgrenzten Überstudenregimen auf der einen und nicht-existenzsichernden Miniarbeitszeiten auf der anderen Seite führen. Eine Vier-Tage-Woche mit dem Kern einer verkürzten Vollzeitarbeit könnte den Fokus bilden." Bontrup führt u.a. aus: "Die richtige Verteilung wird nur gelingen, wenn wieder Vollbeschäftigung hergestellt wird." / "Eine kollektive Arbeitszeitverkürzung verlangt hier deshalb einen vollen Lohn-, Personal- und Finanzierungsausgleich bzw. ein Eindringen in den Mehrwert." Außerdem kann die Internetseite www.Sozialismus.de
zu diesem Thema herangezogen werden.

Allzu romantisch sollte der

Allzu romantisch sollte der Blick auf eine Arbeitszeitverkürzung/30 Stunden Woche nicht sein.

Nach wie vor machen die regulär beschäftigten Arbeiter/Angestellte immer noch sehr viele Überstunden, ob nun bezahlt, durch Freizeit ausgeglichen oder einfach abgepresste Überstunden, die weder bezahlt noch durch Freistunden ausgeglichen werden (das gibt es leider auch).

Zudem ist es leider so, dass 30/32 Stundenkräfte da wo es möglich ist, häufig auf Vollzeitarbeitsplätze gesetzt werden, die Arbeit einfach mit reduzierten Stundenzahl zu schaffen haben, auf Pausen usw. verzichten müssen und letztendlich nach Dienstschluss ziemlich "geschafft" sind.
So sieht leider die Realität aus, die mit einer weiter sich abschwächenden Konjunktur noch drastischer weren wird.

"Bullshit jobs" sind wichtiger

Irgendwann letztes Jahr habe ich in amerikansichen Medien einen interessanten Artikel über eben diese Problematik gelesen.

Der "neoliberale" Arbeitsfetisch, der Menschen als Produktionsmittel begreift das seinen "Wert" durch permanente Vollzeitarbeit täglich zu beweisen hat führt laut mehreren Publikationen zu "Arbeits"plätzen, die keinerlei Wert haben, eben den genannten "Bullshit-jobs". Sie dienen nicht nur - wie weite Teile des "Berater" und "Zertifizierer" Unwesens dazu, tatsächlich produktive Wertschöpfungsketten zur Selbstversorgung zu mißbrauchen sondern eben auch dazu die fiktive Menge an verfügbarer "Arbeit" möglichst hoch zu halten um Arbeitszeitverkürzungen undiskutierbar zu machen.

Man kann sich diesen Meinungen nun anschließen oder nicht aber zumindest sollte man mal langsam die Frage stellen warum vom ehemaligen bescheidenen Ziel der 35-Stunden-Woche trotz massiver Arbeitsverdichtung und Rationalisierungen immer weiter weggeführt wird.

Gern darf man auch die Frage stellen warum sich eine Grokanten-Teilpartei, nach dem durch Europarecht verhinderten Vorhaben, das Arbeitszeitschutzgesetz drastisch zu verschlechtern nun in dieser Richtung positionieren sollte.

30 - Stunden - Woche Nachtrag

Im Heft 10-2020 Sozialismus.de ist ab S. 38 eine weitere interessante Abhandlung zum Thema zu finden: "Arbeitszeitpolitik in der Transformation"
von Dieter Sauer. Abschließend führt Sauer aus: ...
"Zweitens: Kapitalistische Herrschaft in den Betrieben hat im letzten Viertel des vergangenen Jahrhunderts einen Formwandel durchlaufen: Vorm hierarchisch-bürokratischen System der Steuerung der Unternehmen, das sich als Schranke für die Produktivitätsentwicklung erwiesen hat, zu einer neuen Form der indirekten Steuerung. (...) ... und dass Unternehmensleitungen ihre Mitarbeiter seit einiger Zeit dazu auffordern, ihren produktiven Prozess doch gefälligst selber zu organisieren - natürlich unter der Maßgabe der Profitabilität. (...) Während die Entwicklung der Produktivkräfte auf der einen Seite die Aufhebung des betrieblichen Kommandosystems ermöglicht und erfordert, wird auf der anderen Seite die Unbeherrschtheit sozialer Prozesse und die darin liegende Unfreiheit der Individuen durch die neue Unternehmenssteuerung nunmehr gezielt zur Steigerung der Ausbeutung genutzt und steigert den permanenten Druck auf die lebendige Arbeit."
Hier nochmals der Hinweis auf www.Sozialismus.de .