Bildungspolitik

Saskia Esken: „Wir müssen eine Kultur der Weiterbildung etablieren.“

Kai Doering14. September 2021
SPD-Vorsitzende Saskia Esken: Jede Schule muss an schnelles Internet angeschlossen sein.
SPD-Vorsitzende Saskia Esken: Jede Schule muss an schnelles Internet angeschlossen sein.
Die Corona-Pandemie hat die Schwächen im deutschen Bildungssystem offengelegt. Im Interview sagt Parteichefin Saskia Esken, welche Konsequenzen die SPD daraus zieht, wie digitales Lernen besser werden und erneutes Homeschooling verhindert werden soll

Mit Baden-Württemberg und Bayern enden in dieser Woche auch in den verbliebenen Bundesländern die Sommerferien. Ist der Schulstart nach dem langen Lockdown aus dem Frühjahr gelungen?

Das ist wie so oft im Schulbetrieb regional sehr unterschiedlich. In einigen Gegenden mit niedrigen Corona-Inzidenzen gelang es von Anfang an sehr gut, mit regelmäßigen Tests, immer mehr Impfungen und zusätzlichen Förderangeboten einen geregelten Schulbetrieb und damit den für Kinder und Jugendliche so dringend nötigen Alltag zu ermöglichen – und auch Lernlücken in Angriff zu nehmen. Anderswo mussten wenige Tage nach Schulbeginn schon wieder die ersten Klassen in Quarantäne geschickt werden. Hier haben anfangs vor allem die sehr uneinheitlichen Quarantäne-Entscheidungen Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern die Planbarkeit sehr erschwert.

Ich bin daher froh, dass wir uns hier nun vor wenigen Tagen auf bundeseinheitliche Regeln verständigt haben und damit klar ist: Quarantäne gilt bei einem Corona-Fall grundsätzlich nur für die Sitznachbarn, mit einer Freitestmöglichkeit nach fünf Tagen, und für voll geimpfte Jugendliche gar nicht. Die letzte Entscheidung treffen aber natürlich auch weiterhin die Gesundheitsämter.

Die Kultusministerkonferenz ist überzeugt, dass es im neuen Schuljahr trotz der andauernden Corona-Pandemie nicht mehr zu flächendeckenden Schulschließungen kommt. Sie auch?

Ehrlicherweise muss man sagen, dass das niemand seriös versprechen kann, weil wir nicht wissen, mit welchen Virusmutationen wir es noch zu tun bekommen. Aber im Moment steht jedenfalls so viel fest: Wir Erwachsene haben es selbst in der Hand! Ich kann nur wieder und wieder an alle appellieren, sich das bewusst zu machen und sich impfen zu lassen, sofern nicht schon längst geschehen.

Solidarität ist keine Einbahnstraße. Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene haben in den letzten eineinhalb Jahren auf vieles verzichtet, um Ältere zu schützen. Manche werden sehr lange brauchen, das aufzuholen. Wenn es überhaupt möglich ist. Und damit meine ich auch den Abiball, der nie wieder nachgeholt werden kann, aber vor allem die erschreckend vielen Kinder und jungen Leute, die in dieser Zeit ernsthaft psychisch erkrankt sind oder zuhause Gewalt erlitten haben. Jetzt sind sie dran – und es ist an den Älteren, solidarisch zu sein. Homeschooling darf künftig wirklich nur noch das allerletzte Mittel sein.

Mit dem „Aufholpaket“ unterstützt der Bund in diesem und im kommenden Jahr Schüler*innen mit zwei Milliarden Euro, um Lernrückstände durch die Corona-Zeit aufzuholen. Sind Sie mit der bisherigen Umsetzung zufrieden?

Bei dem Aufholpaket, das wir durchgesetzt haben, geht es um Lernrückstände, aber eben auch um die Kinder und Jugendlichen selbst – das ist ja gerade der Clou. Denn neben einer Milliarde Euro für Nachhilfe- und Förderprogramme investieren wir eine weitere Milliarde in die außerschulische Kinder- und Jugendarbeit, für Begleitpersonal und für die Unterstützung der Familien. Das haben wir als SPD durchgesetzt. Denn es ist gerade jetzt eine Frage der Gerechtigkeit, alles dafür zu tun, dass die Folgen der Pandemie für Schüler*innen behoben werden. 

Das Programm ist vielfältig gestaltet. Viele unterschiedliche Verbände und Organisationen arbeiten mit, um Kinder, Jugendliche und deren Eltern zu erreichen. Auf den ersten Blick wirkt die Vielzahl von Teilprogrammen deswegen vielleicht etwas unübersichtlich. Aber wir sind mit der Umsetzung erfreulich gut im Plan. So wurde beispielsweise im August der „Kinder-Freizeitbonus“ an Familien mit kleinen Einkommen ausgezahlt. Es sind schon 588 neue Stellen für Fachkräfte in „Sprach-Kitas“ bewilligt, um jetzt im neuen Kita-Jahr Kinder in ihrer Sprachentwicklung gezielt zu fördern. Und bald können Familien, die sich sonst keinen Urlaub leisten könnten, zweimal eine Woche „Corona-Auszeit“ in einer Familienferienstätte buchen – mit einer geringen Kostenbeteiligung von zehn Prozent. Den Rest übernimmt der Bund.

In ihrem Wahlprogramm fordert die SPD ein Bildungssystem, „in dem für das Leben in einer digitalen Welt gelernt werden kann“. Was bedeutet das konkret?

Seit Beginn der Pandemie haben die Schulen einen Digitalisierungsschub erfahren, den wir mit in die Zukunft nehmen und weiter verstärken wollen. Auf Bundesebene haben wir bereits drei Mal 500 Millionen Euro zusätzlich für die Ausstattung des digitalen Lernens auf den Weg gebracht: für Endgeräte für Schüler*innen, für Lehrkräfte und für die Administration. Unser Ziel muss sein, dass alle Schulen den gleichen hohen Standards für digitales Lernen haben. Dafür ist noch viel zu tun.

Jede Schule muss überhaupt erstmal an schnelles Internet angeschlossen sein. Das ist nun wirklich eine Zukunftsinvestition – und dafür werden wir sorgen. Auch bei den digitalen Lernplattformen ist noch Luft nach oben – ein Grund dafür, dass das Bildungswesen so hart getroffen wurde. Aus dieser bitteren Erfahrung heraus wollen wir mit einer Open-Source-Plattform, die bestehende Angebote vernetzt, dafür sorgen, dass Lehr- und 94 Lernmaterialien länderübergreifend für alle zugänglich sind. So nutzen wir die Möglichkeiten der Digitalisierung für Chancengleichheit in unserem Land. 

Oft wird vom „lebenslangen Lernen“ gesprochen, das in der Realität aber viel zu selten stattfindet. Wie kann das geändert werden?

Wir müssen uns viel mehr um die Weiterbildung kümmern. Unsere Arbeit befindet sich im Wandel. Manche Berufe werden verschwinden, andere neue entstehen, die Zukunft versprechen. Wir wollen deswegen die Arbeitslosenversicherung zu einer solidarischen Arbeitsversicherung weiterentwickeln und einen Anspruch auf Qualifizierung einführen, der bereits nach drei Monaten ohne neue Erwerbsarbeit greift: das Arbeitslosengeld Q. Damit halten wir den Betroffenen den Rücken frei, um sich auf das Wesentliche konzentrieren zu können: Neue Arbeit zu finden, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen.

Auch bestehende Berufe sind in steter Veränderung und passen sich den Anforderungen an. Wir müssen daher in Deutschland eine Kultur der Weiterbildung etablieren: Mit Freiräumen im beruflichen Alltag und modernen Formaten. Dafür brauchen wir ein Recht auf Weiterbildung und beruflichen Neustart, das es Arbeitnehmer*innen auch mit 40plus ermöglicht, noch einmal einen ganz neuen Beruf zu erlernen – mit unserem Modell der geförderten Bildungszeit und Bildungsteilzeit. Wer sie beantragt, soll ein Recht erhalten, sich von seinem Beruf freistellen zu lassen oder die Arbeitszeit zu reduzieren. Die Bildungszeiten wollen wir mit einer finanziellen Förderung ausgestalten, die Lohneinbußen während der Weiterbildung oder Umschulung angemessen kompensiert.

Bildungstage der Arbeitsgemeinschaft für Bildung (AfB)

Bildung ist von jeher das Herzblutthema der SPD. Beste Bildung für alle Kinder und Jugendlichen, Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit sowie Aufstieg durch Bildung sind dabei die zentralen Anliegen. Gute Bildung ist immer noch der zentrale Schlüssel für eine gute Gestaltung der individuellen Lebenswege der Menschen ebenso für eine positive Entwicklung unserer Landes. Was die SPD will, an welchen Stellschrauben noch gedreht werden muss und wie die Zukunft werden sollte, darüber diskutiert die Arbeitsgemeinschaft für Bildung (AfB) der SPD im Rahmen ihrer Bildungstage zwischen dem 11. und dem 18. September. Zum Abschluss findet die AfB-Bundeskonferenz statt.

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Kommentare

Recht auf Weiterbildung gab es bereits.

Dieses gar einklagbare Recht auf Weiterbildung gab es im bis 1998 geltenden Arbeitsförderungs-gesetz für alle Arbeitnehmer [beschäftig, arbeitssuchend, arbeitslos]. Abgeschafft wurde es von der Regierung Kohl und weiter verschlimmert durch die Grünen&SPD Agenda 2010. Guckte man sich das damalige Gesetz an, lernte man, dass das fortschrittlicher war als alles andere, was heute vorgeschlagen wird.

Den Kindern und Jugendlichen wurde übrigens seit Frühjahr 2020 durch das Infektions-schutzgesetz, der von Bundestagsabgeordneten erklärten epidemischen Lage von nationaler Tragweite und den darauf basierenden Ländergesetzen geschadet. Denn den Gesundheitsämtern bleibt ja gar nichts anderes übrig, als nach Gesetzeslage zu handeln.

Würden die Bundestagsabgeordneten sowie die Landtagsabgeordneten mindestens über Biologiekenntnisse der 10. Klasse verfügt haben oder verfügen, wäre all das nicht möglich gewesen. Offenbar mangelt es dort gewaltig an Bildung.

Ich selbst bin übrigens naturwissenschaftlich ausgebildet und habe bereits vor 40 Jahren in der Grippe-Impfstoffherstellung gearbeitet.