vorwärts.de:
Was halten Sie von einem einheitlichen EU-Renteneintrittsalter?
Andrea Nahles: Gar nichts. Die Unterschiede zwischen den Mitgliedsländern sind dafür zu groß. Die historisch gewachsenen Sozialsysteme müssen koordiniert werden, aber ich bin äußerst
skeptisch, dass ein einheitliches Renteneintrittsalter sinnvoll ist. Die Realisierungschancen für solch eine Änderung sind außerdem gleich Null. Zurzeit hat die EU auch andere Probleme als
dieses.
Sind die schwarz-gelben Kürzungen beim Programm "Soziale Stadt" noch aufzuhalten?
Leider wohl nicht. Diese Kürzungen sind ein riesiger Einschnitt ins deutsche Sozialsystem. Zurzeit wird viel über Integration geredet, doch da, wo sie wirklich stattfindet, werden die
Mittel rasiert. Bauminister Peter Ramsauer und die Bundesregierung haben diesen Rückschritt zu verantworten.
Bleiben die Bürgerrechte in der aktuellen Sicherheitsdebatte vollkommen außen vor?
Das hoffe ich nicht. Wir müssen immer abwägen zwischen falscher Hysterie auf der einen und Nachlässigkeit auf der anderen Seite. Als aufgeklärtes, liberales Land sollten wir uns nicht
unsere freiheitliche Kultur durch die Angst vor Terroranschlägen zerstören lassen. Natürlich erwarten die Bürgerinnen und Bürger zu Recht, dass wir sie schützen. Das ist die zentrale Aufgabe der
Polizei. Umso unverantwortlicher ist es, dass die Bundesregierung gerade hier 630 Stellen streichen möchte. Diejenigen, die Sicherheit herstellen und bewahren sollen, müssen auch gut ausgestattet
sein.
Die SPD will sich dafür stark machen, dass die Hartz-IV-Sätze angehoben werden. Wie realistisch ist eine Veränderung?
Die ist sehr realistisch. Nach der Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen hat die SPD an Einflussmöglichkeiten hinzugewonnen. Die wollen wir nutzen. Wir bezweifeln, dass die
Bemessungsgrundlagen der Regierung für die Hartz-IV-Sätze verfassungskonform sind. Der Kreis derjenigen, die als Referenzgröße herangezogen werden, wurde willkürlich verkleinert. Das führte zu
einer künstlichen Minimierung der Regelsätze. Das wollen wir rückgängig machen. Auch mit dem Bildungspäckchen, das Frau von der Leyen gepackt hat, sind wir unzufrieden. 12,50 Euro für jedes Kind
im Monat sind lediglich ein Tropfen auf den heißen Stein. Hier müssen strukturelle Änderungen her, etwa ein Sozialarbeiter in jeder Schule. Das würde übrigens genauso viel kosten wie das
schwarz-gelbe Betreuungsgeld das die Bundesregierung ab 2013 geben will für Familien, die ihre Kinder nicht in die Kita geben.
Es läuft also auf eine Klage vor dem Bundesverfassungsgericht hinaus?
Erstmal rechnen wir mit Bewegung von Seiten der Bundesregierung. Es wird wohl einen Vermittlungsausschuss geben, in dem wir Verbesserungen heraushandeln können. Was die Grundlage der
Berechnung der Regelsätze angeht, sind insbesondere die Regelsätze für Kinder fragwürdig. Auf Dauer können wir schließlich nicht akzeptieren, dass bei den Hartz-IV-Sätzen gegen die Verfassung
verstoßen wird.
SPD-geführte Länder werden vor dem Bundesverfassungsgericht auch gegen die AKW-Laufzeitverlängerung klagen. Welche Chancen rechnen Sie sich dafür aus?
Wir rechnen uns gute Chancen aus, weil den Ländern, die die Atomaufsicht im Auftrag des Bundes durchführen, erhebliche Mehrbelastungen und -aufgaben auferlegt werden. Ältere Reaktoren
werden immer störanfälliger, müssen immer intensiver überwacht werden und zwar von den Ländern. Und damit ist das gesamte Gesetz unserer Ansicht nach zustimmungspflichtig, weil der Bund ohne die
Zustimmung der Länder diesen keine Aufgaben übertragen oder bestehende Aufgaben verlängern darf. Diese Rechtsansicht wird nicht nur von der SPD vertreten, weshalb wir die Anrufung des
Bundesverfassungsgerichtes für sehr aussichtsreich halten.
Leseraktion:
Haben Sie auch eine Frage an Andrea Nahles? Dann stellen Sie sie
hier. Die vorwärts-Redaktion wählt die interessantesten aus und stellt sie der Generalsekretärin im Interview für die erste
Ausgabe im neuen Jahr.