In Troisdorf im Rhein-Sieg-Kreis steht zwar das einzige Bilderbuchmuseum in Europa. Mit einer Märchenstunde hatte die Veranstaltung zur Vorstellung der Kandidierenden für den SPD-Parteivorsitz allerdings nicht das Geringste zu tun. Im Gegenteil: Die Akteure in der Stadthalle der zwischen Köln und Bonn gelegenen Kleinstadt warteten am Sonntagvormittag mit konkreten Vorschlägen und klaren Positionen zu den politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen des Landes auf. Und sie warben mit großer Leidenschaft für eine SPD, die verlorenes Vertrauen wieder zurückgewinnen müsse: Mit einer glaubwürdigen und konsequent an den Bedürfnissen der Menschen ausgerichteten Politik.
Die Tour ist also in NRW angekommen, dem Bundesland mit den meisten Einwohnern – und den mit Abstand meisten SPD-Mitgliedern. Ein Viertel der 440.000 Genossinnen und Genossen sind an Rhein und Ruhr beheimatet. Hier könnte die Entscheidung darüber fallen, wer die Sozialdemokratie im 156. Jahr nach ihrer Gründung führen soll. Drei der insgesamt 14 Kandidierenden stammen direkt aus dem mitgliederstärksten Landesverband – Christina Kampmann, Norbert Walter-Borjans und Karl Lauterbach, die jeweils einen Partner oder eine Partnerin aus einem anderen Bundesland an ihrer Seite haben. Es gebe ein tolles Personalangebot der nordrhein-westfälischen SPD, sagte Dörte Schall, Vize-Chefin des Landesverbands, zu Beginn der Veranstaltung. Sie vertrat Sebastian Hartmann eingesprungen, der in der Nacht zum Sonntag Vater geworden war.
Debatte über Schulden und Investitionen, Wirtschaft und Gesellschaft
Das Los will es, dass Ralf Stegner und Gesine Schwan den Anfang machen. Sie haben – wie alle anderen Bewerber im Anschluss auch – fünf Minuten Zeit, um sich persönlich und ihre Motivation für die Kandidatur vorzustellen. Stegner sagt, er komme aus dem Norden, dort lerne man Standfestigkeit und Klarheit. Und dies müsse die „linke Volkspartei“ SPD auch wieder verkörpern – insbesondere wenn es um den Sozialstaat gehe. Schwan plädiert dafür, dass die Partei stärker zusammenstehen soll. Wichtig sei auch, dass die SPD sich unabhängig mache von einzelnen Gruppen und Koalitionen, sie dürfe nicht länger „Anhängsel eines Kabinetts“ sein.
Olaf Scholz thematisiert den um sich greifenden Populismus in Deutschland, Europa und den USA. Dieser Populismus führe zu Spaltung und Desintegration, für eine gedeihliche Zukunft sei aber vielmehr Solidarität nötig. Für Deutschland bedeute das beispielsweise, dass es hinsichtlich der Schuldenproblematik in vielen Städten und Gemeinden eine Lösung geben müsse. Für seine Partnerin Klara Geywitz ist das Erstarken der Populisten vor allem in Ostdeutschland nicht hinnehmbar. Sie habe keine Lust, den Osten der AFD zu überlassen, sagt sie unter großem Applaus. Hier müsse die SPD sehr deutlich auftreten.
Boris Pistorius und Petra Köpping betonen ihre kommunalpolitische Kompetenz und Erfahrung. Es müsse Schluss damit sein, dass den Kommunen immer neue „Knüppel zwischen die Beine“ geworfen würden, sagt Pistorius. Seine Co-Kandidatin ergänzt, dass sich in den neuen Ländern jeder Zweite als Bürger zweiter Klasse empfinde. „Wir können das verändern“, ruft sie den Genossinnen und Genossen im Saal entgegen. Als niersächsischer Innenminister trete Pistorius außerdem für die konsequente Verfolgung von Straftaten ein. Gegen pauschale Vorverurteilung von Migranten müsse man sich aber ebenso zur Wehr setzen.
Hilde Mattheis und Dierk Hirschel beklagen unisono, dass die SPD „von ihrem Weg abgekommen“ sei. Man müsse wieder als Partei der Arbeit erkennbar werden sagt Hirschel, „Hartz IV überwinden und prekäre Beschäftigung zurückdrängen“. Deutschland dürfe nicht eine Steueroase für Vermögende und Konzerne sein. Mit dem zusätzlichen Geld, so Hilde Mattheis, müssten Alte und Kinder vor Armut geschützt werden, Krankenhäuser, Schulen und Pflegeinrichtungen besser ausgestattet werden.
Norbert Walter-Borjans möchte, dass die SPD künftig wieder einem klaren sozialdemokratischen Kompass folgt und ihre Tugenden ausspielt. Man dürfe nicht mehr so häufig „auf Berater und Lobbyisten hören“. So müsse beispielsweis das Ehegatten-Splitting abgeschafft werden, das würde Milliarden für andere, sinnvollere Projekte freisetzen. Für Partnerin Saskia Esken ist mit Blick auf die Zukunft die Verteilungsfrage von überragender Bedeutung. Die beiden wollen ebenfalls wesentlich mehr Geld in die Kommunen investieren.
Nina Scheer, die Co-Kandidatin von Karl Lauterbach, fordert eine „beschleunigte Energiewende“ und zeigt sich mit dem von der Großen Koalition ausgehandelten Klimapaket unzufrieden. „So einen Pakt machen Karl und ich nicht mit“, sagt sie. Er sei nur ein weiterer Beleg dafür, dass die SPD aus der Groko aussteigen müsse. Früher, so ergänzt Lauterbach, seien die Jugendlichen „für uns auf die Straße gegangen. Heute demonstrieren sie gegen die SPD“. Das könne so nicht weitergehen. Die GroKo habe keine Zukunft und müsse beendet werden, wiederholten sie ihre Position aus den vergangenen Konferenzen.
Christina Kampmann fordert ein „Ende der schwarzen Null“ und plädiert dafür, in den dringend benötigten Ausbau der digitalen Infrastruktur zu investieren. Zugleich will die frühere NRW-Familienministerin eine Kindergrundsicherung durchsetzen. Michael Roth wünscht sich hingegen, dass Deutschland in Jahr 2030 Exportweltmeister bei Solartechnik und die Bildung endlich von der Kita bis zur Hochschule gebührenfrei ist. Rüstungsexporte in Krisenregionen seien nicht nur ein deutsches, sondern ein europäisches Problem, welches gemeinsam angegangen werden müsse.
Troisdorf setzt Reihe der vollen Hallen fort
Die 19. von insgesamt 23 Konferenzen der SPD-Tour machte überaus deutlich: Das Format hat nichts von seinem Charme verloren. Das Publikum im völlig überbuchten und in rotes Licht getauchten Saal verfolgte die Statements auf der Bühne mit großer Aufmerksamkeit, stellte Fragen, kommentierte einzelne Aussagen. Der Tenor war eindeutig: Eine überaus gelungene Vorstellung, die allen Beteiligten die Erkenntnis vermittelte, dass die SPD lebt und gebraucht wird. Es sei gut, so das Fazit vieler Genossinnen und Genossen, dass die Personalentscheidungen nicht mehr vorbestimmt würden, sondern die Basis aktiv eingebunden und sich ein Bild der Bewerberinnen und Bewerber um den Parteivorsitz machen könne.
Als die Kandidierenden auf der Bühne aufgefordert wurden, jeder für sich ein Symbol für die SPD zu zeichnen, die sie verkörpern wollen, malten gleich mehrere ein Herz auf das ihnen gereichte Blatt. Bei allen Unterschieden der Charaktere und der inhaltlichen Schwerpunkte eine bemerkenswerte Gemeinsamkeit.