Kommunale Finanzkrise

Jetzt reicht’s uns!

03. April 2010

"Das Loch, in das wir schauen, ist ein Abgrund." Barbara Bosch, Oberbürgermeisterin von Reutlingen, findet klare Worte, als sie vor die Beschäftigten der Stadt tritt. Es sind keine gute
Nachrichten, die sie zu verkünden hat. "Unser Alltag wird härter und schwieriger", warnt sie. Bis 2013 fehlen der Stadt mindestens 100 Millionen Euro. Allein 2010 sind 32 Millionen zu wenig in
der Kasse. Wie in fast allen anderen deutschen Kommunen reißen auch in Reutlingen die Auswirkungen der Finanzkrise riesige Löcher in die Kasse: steigende Sozialausgaben bei gleichzeitig sinkenden
Steuereinnahmen.

Schuld ist nicht nur die Krise

Doch wenn es nur das wäre. Bosch schlägt noch aus einem anderen Grund Alarm. Sie zitiert den russischen Dichter Anton Tschechow: "Eine Krise kann jeder Idiot haben. Was uns zu schaffen macht,
ist der Alltag." Denn die parteilose OB geht wie auch andere Kommunalexperten davon aus, dass sich die Finanzsituation nie wieder ganz erholen wird. Strukturelle Probleme "made in Germany"
raubten den Städten und Gemeinden die Einnahmen, "und zwar dauerhaft, selbst dann, wenn die Konjunktur wieder anspringt".

Rund 40 Prozent der Steuerrückgänge seien nicht auf die Krise sondern auf politische Entscheidungen des Bundes zurückzuführen, etwa auf die Unternehmenssteuerreform, so Bosch. Und das von
Schwarz-Gelb beschlossene Wachstumsbeschleunigungsgesetz wird Reutlingen schätzungsweise zwei bis drei Millionen kosten. Im Jahr, in jedem Jahr. Bundesweit beziffert der Städtetag die
Einnahmeausfälle aufgrund dieses Gesetzes sogar auf 1,6 Milliarden Euro.

Von einem "Schuldenbeschleunigungsgesetz" spricht deshalb der kommunalpolitische Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion Bernd Scheelen. Er fordert die Erstattung der Ausfälle durch den Bund.
"Der Umfang kommunaler Aufgaben und Ausgaben einerseits und die zu deren Erfüllung zur Verfügung stehenden Einnahmen andererseits müssen in Einklang gebracht werden", schreibt die Fraktion in
einem Antrag, der Ende März in den Bundestag eingebracht werden soll.

Ein Rettungsschirm für Kommunen soll die Stadtkassen kurzfristig entlasten und langfristig den Kommunen mehr Handlungsspielraum bieten. So soll der Bund etwa seine Beteiligung an den Kosten
für die Unterbringung von Hartz-IV-Empfängern befristet anheben. Die Länder sollen verpflichtet werden, Mittel für kommunale Aufgaben ungekürzt an Städte und Gemeinden weiterzugeben und faire
Wettbewerbsregeln für kommunale Unternehmen zu schaffen. Auch der Deutsche Städte- und Gemeindebund fordert einen Rettungsschirm, ähnlich dem für die Banken.

Streit um die Gewerbesteuer

Doch während noch über Rettungsmöglichkeiten nachgedacht wird, droht den Kommunen weiteres Ungemach: Die schwarz-gelbe Bundesregierung rückt auch der Gewerbesteuer zu Leibe. Ende Februar
setzte sie eine "Gemeindefinanzkommission" ein, die am 4. März ihre Arbeit aufnahm. Die besteht darin, "Vorschläge zur Neuordnung der Gemeindefinanzierung" zu erarbeiten. Im Klartext bedeutet
das, die Gewerbesteuer durch einen höheren Anteil an der Umsatzsteuer und einen kommunalen Zuschlag auf die Einkommens- und Körperschaftssteuer zu ersetzen.

Auch wenn im Arbeitsauftrag der Regierung lediglich steht, eine solche Möglichkeit solle "geprüft" werden, schrillen in den Kommunen die Alarmglocken. Sie warnen davor, die wichtigste
kommunale Einnahmequelle abzuschaffen. Aus ihrer Sicht käme nur eine Reform in Frage, "die die Gewerbesteuer eher stabilisiert", wie Gerd Landsberg, Geschäftsführer des Städte- und
Gemeindebundes, es formuliert.

Für Städtetagspräsidentin Petra Roth (CDU) ist daher klar: "Die wichtigste städtische Steuer darf nicht ausgehöhlt werden." Sie hegt große Zweifel an den Plänen der Bundesregierung,
schließlich sei es bisher niemandem gelungen, eine tragfähige Alternative zur Gewerbesteuer zu finden. Vorsorglich droht sie: "Eine Reform kann nicht gegen den Willen der Städte beschlossen
werden." Von einer "Beerdigung erster Klasse" spricht gar der SPD-Mann Scheelen. Die Sozialdemokraten hätten schon in der großen Koalition für die Gewerbesteuer gekämpft.

Wer bezahlt die Schulen?

Scheelen plädiert dafür, auch Freiberufler einzubeziehen. Und Parteichef Sigmar Gabriel spricht sich für eine "grundsätzliche Veränderung der kommunalen Finanzgrundlangen" aus - allerdings
anders als die Regierung es plant. Aus Gabriels Sicht muss das Steuer- und Finanzkonzept von Bund und Ländern in erster Linie die Frage beantworten, wie die Kommunen ihre vielfältigen Aufgaben
erfüllen können. "Wir müssen darüber diskutieren, wie wir Städte und Gemeinden dauerhaft finanzieren", so Gabriel.

Das dürfte im Sinne der Stadtoberhäupter sein, die derzeit aus dem Rechnen gar nicht mehr herauskommen. "Es ist schön, wenn eine Regierung Steuern senkt", sagt Barbara Bosch aus Reutlingen,
"doch was, wenn die Einnahmen aus Gewerbe- und Einkommenssteuer den Städten und Gemeinden fehlen? Wer bezahlt dann die Schulen, Schwimmbäder, Straßen, Kindergärten?"

In Sachsen etwa ist diese Frage keine hypothetische mehr. In dem Bundesland sind die Steuereinnahmen des Jahres 2009 im Vorjahresvergleich um elf Prozent gesunken. Somit fehlen rund 270
Millionen Euro. Für 2010 erwartet der Sächsische Städte- und Gemeindetag (SSG) weitere Mindereinnahmen in Höhe von 100 Millionen Euro. Um ihre Pflichtaufgaben überhaupt erfüllen zu können, müssen
die sächsischen Städte und Gemeinden die freiwilligen Leistungen radikal herunterfahren. "In den Kommunen steht derzeit alles auf dem Prüfstand: Schwimmbäder, Theater, Sportstätten,
Vereinsförderung", sagt SSG-Geschäftsführer Mischa Woitscheck. Ein Bereich macht ihm besondere Sorgen: Der Freistaat Sachsen, selbst von Steuermindereinnahmen gebeutelt, wird die so genannte
Jugendpauschale kürzen. Damit sind Stellen und Projekte in Jugendbegegnungsstätten massiv gefährdet, weil die Städte und Gemeinden beim besten Willen nicht in der Lage sind, die Streichungen des
Landes auszugleichen. Andernorts hat die rechte Szene solche Situationen bereits ausgenutzt und betreibt "Jugendhäuser" oder Vereine, wo der Staat es nicht mehr vermag.

Auf der Intensivstation

Das Schlimme an der Situation in Sachsen ist: Alle beschriebenen Probleme sind laut Woitscheck erst der Anfang. Richtig dramatisch, so der SSG-Geschäftsführer, werde es in den Jahren 2011 und
2012. "Dann werden wir den Zustand erreicht haben, dass für die freiwilligen Leistungen überhaupt kein Geld mehr da ist." Und erklärt: "Dann kommt das gesellschaftliche Leben fast zum Erliegen."
Dass es soweit nicht kommen darf, ist allen kommunalen Akteuren klar, es gibt auch bereits Verhandlungen mit dem Land über höhere Zuschüsse. Die Situation in Sachsen zeigt aber auch, wie fragil
die Finanzierungsstrukturen der Länder sind, wie wenig krisenfest.

Das spürt auch Maria Unger (SPD), Bürgermeisterin im nordrhein-westfälischen Gütersloh. Es hat schon einen bitteren Nachgeschmack, wenn die gute Nachricht der Woche so aussieht, dass die
Stadt keinen Nothaushalt verabschieden muss. Doch das war haarscharf. 24 Millionen Euro beträgt das Defizit im Haushaltsplan 2010. Damit der überhaupt aufgestellt werden konnte, musste die
Stadt drei Konsolidierungsrunden bewältigen: Erst ging eine Unternehmensberatung alle Posten durch, dann legte die Verwaltung einen Sparplan vor, und schließlich wurde alles noch einmal von den
politischen Gremien durchdiskutiert. 15 Millionen konnten so eingespart werden. Die Gründe für die Miesen sind beispielhaft für die Geldnot in den meisten derzeit klammen deutschen Städten: Wegen
der Finanz- und Wirtschaftskrise verzeichnen viele Unternehmen zum Teil massive Gewinneinbrüche. Wer aber wenig verdient, zahlt auch wenig Gewerbesteuer. Diese Einnahmen sind vielerorts
Haupteinnahmequelle.

"Die Kommunen liegen auf der Intensivstation", warnt denn auch die Präsidentin des Deutschen Städtetags, Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth. Nach ihren Angaben sanken die
Gewerbesteuereinnahmen um rund 17 Prozent. Das sind Einnahmeverluste in Höhe von insgesamt 5,5 Milliarden Euro bei allen Kommunen.

Gleichzeitig steigen die Ausgaben der Städte und Gemeinden. Übrigens aus dem gleichen Grund, aus dem die Einnahmen sinken: Wegen der Krise sind mehr Menschen arbeitslos und müssen Leistungen
vom Staat beziehen. Das Wohngeld für Bezieher von Arbeitslosengeld II berappen aber zu einem Gutteil die Kommunen. Damit haben sie also einen steigenden, nicht von ihnen selbst zu steuernden
Ausgabenposten.

Sozialausgaben verdoppelt

In den vergangenen zehn Jahren haben sich die Sozialausgaben der Kommunen verdoppelt und liegen nun bei rund 42 Milliarden Euro. Hinzu kamen steigende Personalkosten. Der Tarifabschluss für
die Beschäftigten im öffentlichen Dienst kostet die Kommunen 1,1 Milliarden Euro in diesem, sowie weitere 1,3 Milliarden Euro im kommenden Jahr. Diese Summen nennen der Deutsche Städte- und
Gemeindebund und der Deutsche Städtetag. Beide Institutionen warnen derzeit lautstark vor Überschuldung und Handlungsunfähigkeit der Kommunen und verlangen, dass Bund und Länder eingreifen.

Kernpunkt der Kritik ist, dass die wachsenden und die neuen Aufgaben für Kommunen, wie steigendes Wohngeld, aber auch Aufwendungen für neu zu schaffende Kinderbetreuungsplätze, weitaus stärker
als bisher gegenfinanziert werden müssen.

"Wer die Musik bestellt, soll auch zahlen", formuliert Maria Unger. Die OB von Gütersloh warnt: "Man kann eine Stadt auch kaputtsparen." Die Stadt habe zwar "gute Standards". So bescheinigten
die Wirtschaftsprüfer der Kommune, dass ihre Verwaltung sehr straff und sparsam sei, sie auf der Einnahmenseite aber noch Spielraum sähen. Also wird Gü­tersloh jetzt seine Gewerbesteuer und
Grundsteuer anheben. Die Hundesteuer wird ebenfalls erhöht, und die örtlichen Sportvereine müssen sich stärker an den Bewirtschaftungskosten für die Gebäude beteiligen, Vereinen werden Zuschüsse
gekürzt. Ohne Murren ließ sich das natürlich nicht durchsetzen. "Ich habe eine große Menge Briefe und E-Mails mit Protesten erhalten", sagt Unger.

16 000 Unterschriften gegen Kürzungen

Den größten Unmut lösten die geplanten Kürzungen bei Stadt- und Schulbibliotheken aus. Mehr als 16 000 Unterschriften gingen im Rathaus ein, und Schüler organisierten eine Demonstration. Die
politische Mehrheit im Bildungsausschuss aus CDU, Grünen und Unabhängiger Wählergemeinschaft (UWG) hatte gefordert, den Bücherei-Etat von derzeit 1,9 Millionen Euro bis 2015 um 700 000 Euro zu
kürzen. Der Kompromiss sieht jetzt etwas moderater aus. 200 000 Euro müssen bis 2010 eingespart werden und danach voraussichtlich weitere 350 000 Euro. Sozialdemokratin Maria Unger ist darüber
sehr froh. Bildung ist ihr ein besonderes Anliegen.

Denn was steckt hinter diesen Zahlen? Gütersloh beschäftigt in den Schulen Bibliothekare, die Schüler nicht nur bei der Auswahl von Büchern beraten, sondern die auch mit den Lehrern
zusammenarbeiten, in den Unterricht eingebunden werden und Projekte betreuen. Einerseits ein Plus, das leicht Sparzwängen zum Opfern fallen könnte, weil es über das Notwendigste hinaus geht.
Andererseits vielleicht doch auch wichtig und nötig in einem Land, dass sich nach Übereinkunft aller Politiker als "Bildungsstandort" profilieren will. Und dass dafür noch einiges getan muss,
belegen zahlreiche Studien. So hat die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) herausgefunden, dass die Unterschiede zwischen guten und schlechten Schülern, etwa
bei der Lesekompetenz, in Deutschland außergewöhnlich groß sind.

Schulen als Standortfaktor

Die Ausgaben für die Bibliotheken gehören zu den so genannten freiwilligen Aufgaben der Stadt. Das bedeutet auch, dass das die einzigen Ausgaben sind, die die Haushälter auf eigenen Beschluss
kürzen oder ganz streichen können. Unwichtig sind sie deshalb aber noch lange nicht. "Diese Leistungen sind auch Investitionen in den Standort", sagt Unger, die eine zunehmende Konkurrenz der
Städte untereinander ausmacht.

Gütersloh verfügt mit Miele und Bertelsmann über zwei hochkarätige Unternehmen. Diese Unternehmen benötigen Fachkräfte, solche aus den Medien, Kaufleute, Ingenieure und Techniker. "Damit wir
keinen Fachkräftemangel bekommen, muss die Stadt etwas bieten", ist die Oberbürgermeisterin überzeugt. Und zwar in allen Bereichen.

Eine gute Versorgung mit Kindergärten und Schulen sei unerlässlich, um junge Familien zu halten. Damit eine Stadt lebenswert sei, müsse die Infrastruktur stimmen, müssten Wohnung und Arbeit
leicht erreichbar sein. Machbar sei das nur bei einem gut ausgebauten öffentlichen Nahverkehr und Straßen ohne allzu viele Schlag­löcher. Auch die Kultur sei ein Standortfaktor. "Noch kommen
viele unserer Bürger, die zum Studieren wegziehen, irgendwann wieder. Das soll auch so bleiben", sagt Unger.

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