
Die Rede war mit Spannung erwartet worden. Was würde EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen in ihrer ersten „Rede zur Lage der Union“ sagen? Welche Rolle würden Corona und das Drama um die Geflüchteten in Moria spielen? Länger als eine Stunde sprach von der Leyen im Europaparlament in Brüssel und spannte dabei den Bogen von Klimaschutz bis zur Gesundheitspolitik.
„Eine Rede voller Absichten und Versprechungen“
Die Bewertung der SPD fällt dennoch negativ aus. „Ursula von der Leyens Rede zur Lage der Union war voller Absichten und Versprechungen“, fasst sie der Vorsitzende der SPD-Europaabgeordneten, Jens Geier, zusammen. Ambitioniert gestartet, sei von der Leyen inzwischen zur Praxis ihres Vor-Vorgängers Manuel Barroso zurückgekehrt: „Mutige Vorstöße, die eine europäische Lösung ermöglichen, ließ sie bisher oft vermissen.“ Bislang habe die EU-Kommission zudem „ohne Feuer für Veränderung“ ihre selbstgesetzte Agenda abgearbeitet. „Das muss sich nach all diesen Ankündigungen ändern“, fordert Jens Geier.
Am deutlichsten hat Ursula von der Leyen diese im Bereich des Klimaschutzes formuliert. Um „mindestens 55 Prozent“ im Vergleich zu 1990 will sie die CO2-Emissionen in der EU bis 2030 reduzieren. Bislang liegt das Ziel bei 40 Prozent. Wirtschaft und Industrie könnten das verkraften, ist die Kommissionspräsidentin überzeugt.
Burkhardt: CO2-Pläne sind eine „Mogelpackung“
Doch was ambitioniert klingt, ist aus Sicht der SPD-Europaabgeordneten Delara Burkhardt eine „Mogelpackung“: Anders als bisher wolle von der Leyen nämlich auch „negative Emissionen durch Landnutzung und Forstwirtschaft“ in die Berechnung der Zielvorgabe mit einbeziehen. Wenn etwa Wälder der Atmosphäre CO2 entziehen, soll sich dies positiv auf die Bilanz auswirken.
„Was auf dem Papier wie ein Schritt in die richtige Richtung aussieht, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Mini-Steigerung des Klimaziels um gerade einmal fünf bis sieben Prozentpunkte“, rechnet Burkhardt vor. Zudem habe der Umweltausschuss, in dem sie Mitglied ist, erst in der vergangenen Woche eine CO2-Reduzierung von 60 Prozent bis 2030 gefordert – und zwar „ohne Einbeziehung des Landnutzungs- und Forstwirtschaftssektors“.
Geier: Könnten schon über Lösungen diskutieren
Und auch beim zweiten großen Thema, der Flüchtlingspolitik, hat Ursula von der Leyen aus Sicht der SPD enttäuscht. Zwar habe sie sich klar zur Seenotrettung bekannt und mehr gesamteuropäische Verantwortung angemahnt, doch „gäbe es den neuen Vorschlag für eine Europäische Migrationspolitik schon, könnten wir heute angesichts der humanitären Krise auf Lesbos bereits über Lösungen diskutieren“, kritisiert Jens Geier.
Den Pakt für Migration, der die europäische Flüchtlingspolitik auf neue Füße stellen soll, hatte Ursula von der Leyen bereits für das Frühjahr angekündigt. Nun soll er – unter dem Eindruck der Vorgänge in Moria – in den kommenden Tagen vorgestellt werden. „Hoffentlich kommen nächste Woche endlich gangbare Vorschläge“, hofft Jens Geier.
Barley: Kein Wort zur Rechtsstaatlichkeit
Den meisten Applaus bekam Ursula von der Leyen bei ihrer Rede im Europäischen Parlament aus Sicht des Vorsitzenden der SPD-Abgeordneten, „wenn sie sich ausdrücklich von autoritärer, homophober und fremdenfeindlicher Politik distanzierte. Schön wäre, wenn ein solcher Kampf gegen Menschenverachtung auch Politik in ihrer europäischen Parteienfamilie würde.“
Dass sie in diesem Bereich nicht viel von der Kommissionspräsidentin erwartet, machte Parlamentsvizepräsidentin Katarina Barley auf Twitter klar. „KEIN WORT zu finanziellen Konsequenzen bei systematischen Verstößen gegen Rechtsstaatlichkeit. Ich bin fassungslos“, schrieb sie noch aus dem Plenarsaal. Im Anschluss fasste sie die Rede nochmal in einem ironischen Tweet zusammen: „Mit viel Verve Selbstverständliches proklamieren. Immer eine Garantie für Applaus.“