
Mit welchen Gefühlen blicken Sie auf die Europawahl am 26. Mai?
Inzwischen blicke ich mit einem nervösen Optimismus auf den 26. Mai. Seit einigen Tagen habe ich das Gefühl, dass etwas in Bewegung kommt. Viele Verbände, Initiativen, Parteien sowieso, aber auch Unternehmen machen auf die Europawahl aufmerksam und rufen zur Teilnahme auf. Das macht mir Hoffnung auf eine hohe Wahlbeteiligung, die diesmal besonders wichtig ist, um die Gegner Europas möglichst klein zu halten.
Eine große Mehrheit der Deutschen hält die EU für eine gute Sache, ist aber der Meinung, sie funktioniere zurzeit nicht richtig. Woran liegt das?
Aus meiner Sicht ist das eine sich selbst verstärkende Legende. Viele Dinge, die über die EU erzählt werden – sei es das Bürokratiemonster oder die Steuergelder vernichtende Maschine – stellen sich bei genauerem Hinsehen als falsch heraus. Die gesamte EU mit mehr als 500 Millionen Bürgern hat zum Beispiel nicht einmal halb so viele Beamte wie der Stadtstaat Berlin. Oder die Netto-Beiträge, die Deutschland insgesamt pro Jahr an die EU zahlt: Sie sind in etwa gerade mal so hoch wie die gesamten Rundfunkbeiträge. Davon abgesehen sind die Kosten nur ein Bruchteil von dem, wie jeder einzelne vom europäischen Binnenmarkt profitiert. Natürlich haben die EU und ihre Institutionen eine Bringschuld, besser über ihre Politik zu informieren, aber es gibt auch eine Holschuld der Bürgerinnen und Bürger.
Bei „Pulse of Europe“ versammeln sich regelmäßig hunderte Menschen, um für die EU zu demonstrieren. Was verbindet sie?
Die Menschen verbindet zunächst einmal die Angst, etwas verlieren zu können, das sie schätzen. „Pulse of Europe“ hat sich ja 2016 als Reaktion auf die Wahl von Donald Trump und den Brexit gegründet. Die Sorgen sind seitdem etwas kleiner geworden, weil zwischenzeitlich bei den Wahlen in den Niederlanden und in Frankreich nicht die Gegner, sondern die Freunde Europas gewonnen haben. „Pulse of Europe“ ist an 120 Standorten in mehr als 20 Ländern aktiv. Bei uns kommt ein Querschnitt der Gesellschaft zusammen – von der Schülerin bis zum Rentner, vom Linken bis zum Konservativen. Diese Vielfalt empfinden wir alle als großartig, denn bei aller Unterschiedlichkeit teilen wir alle eine gemeinsame Haltung: für Europa.
Gilt dasselbe für Ihre Veranstaltungen, die meistens am Sonntagnachmittag stattfinden?
Ja, da gilt das genauso. Manchmal werden wir ja etwas despektierlich als Rentnerveranstaltung beschrieben, was wir definitiv nicht sind. Aber es kommen schon auch viele Ältere, für die die EU vor allem ein Friedensgarant ist, während die Jüngeren durch die EU eher den Schutz ihrer persönlichen Freiheiten gewahrt sehen.
Mit der geringeren Sorge um die EU hat „Pulse of Europe“ auch an Zulauf verloren. Gingen zu Anfang mehrere tausend Menschen auf die Straße, sind es inzwischen eher einige hundert. Haben Sie Sorge, dass das Bündnis an Attraktivität verliert, weil andere Themen den Menschen wichtiger sind?
Natürlich ist es schön, wenn man jede Woche eine neue Rekord-Teilnehmerzahl bei unseren Demos verkünden kann, aber daran würde ich nicht unseren Erfolg messen. Der große Schatz von „Pulse of Europe“ sind die 600 bis 700 Engagierten, die häufig im Verborgenen arbeiten. Wir tauschen uns über ein Intranet zwischen den Standorten aus und planen Aktionen – häufig auch in Kleinstädten. Uns war von Anfang an wichtig, dass wir nicht nur als fahnenschwenkende Europafans wahrgenommen werden, sondern dass unsere Arbeit auf Dauer angelegt ist. Das funktioniert und bei uns passiert unglaublich viel Gutes. Deshalb habe ich nicht das Gefühl, dass wir in der Bedeutungslosigkeit verschwinden.
Ein neues Format, das Sie entwickelt haben, sind sogenannte Hausparlamente. Was verbirgt sich dahinter?
Bei uns stehen von Anfang an der Austausch und das Zuhören im Mittelpunkt. Deshalb gibt es bei unseren Demos auch das Angebot des offenen Mikrofons. Diesen Ansatz greifen wir mit den europäischen Hausparlamenten auf. Wir entwickeln dabei eine Frage zu einer aktuellen Herausforderung und liefern Basisinformationen als Diskussionsgrundlage. Beides schicken wir dann an Menschen, die sich bereit erklärt haben, ein Hausparlament zu organisieren. Am Küchentisch, in der Kneipe oder im Park können sie dann mit ihren Gästen diskutieren. Wenn fünf Leute um einen Tisch sitzen, verfünffacht sich in der Regel das Wissen, da jeder noch einen anderen Aspekt beisteuern kann. Nach der Debatte wird dann abgestimmt. Die Ergebnisse werden auf unserer Internetseite hochgeladen, von uns gesammelt und ausgewertet. Und das Beste: Es gibt eine Rückmeldung von einem politischen Entscheider, den wir im Vorfeld gewonnen haben. Die wenigsten ändern zwar durch die Hausparlamente ihre Meinung, aber fast alle sagen, dass sie die Meinungen der anderen nach der Diskussion besser verstehen. Die zweite Runde haben wir übrigens gerade abgeschlossen und werden die Ergebnisse und die Reaktionen der Politiker noch vor der Europawahl veröffentlichen.
„Pulse of Europe“ versteht sich als überparteilich, lange durften auch keine Politiker bei den Kundgebungen sprechen. Inzwischen hat sich das geändert. Warum?
Uns war und ist wichtig, dass vor allem diejenigen zu Wort kommen, die sonst keine Gelegenheit dazu haben: die Bürgerinnen und Bürger. Dass wir zu unseren Kundgebungen in diesem Jahr dezidiert Politiker eingeladen haben, ist Teil unserer Kampagne zur Europawahl. Wir möchten die Menschen dazu motivieren, wählen zu gehen – und zwar eine Partei, die wir als konstruktiv für die Zukunft der Europäischen Union ansehen. Dafür ist es wichtig, dass die Wählerinnen und Wähler auch diejenigen kennenlernen, denen sie ihre Stimme geben sollen.
Gab es eigentlich jemals die Idee, dass „Pulse of Europe“ selbst bei der Europawahl antritt?
Bei 700 Aktiven, die gerne und viel diskutieren, gibt es immer sehr viele Ideen. Deshalb haben wir durchaus auch mal darüber nachgedacht, uns selbst zur Wahl zu stellen. Am Ende haben wir uns aber bewusst dagegen entschieden, denn es gibt in Deutschland bereits ein großes Angebot an Parteien, die man als feuriger Pro-Europäer wählen kann. Unsere Aufgabe ist eine andere. Wenn es darum geht, für Europa auf die Straße zu gehen, sind wir auch nach der Wahl sofort wieder da.
Wie bewerten Sie in diesem Zusammenhang den neuen Verein „Tu was für Europa“ von Martin Schulz?
Die Initiative finde ich natürlich großartig – es kann gar nicht genug überparteiliches Engagement für Europa geben. Die Ziele und auch die Methoden von „Tu was für Europa“ scheinen denjenigen von Pulse of Europe sehr zu ähneln und es wäre toll, wenn wir spätestens nach der Wahl gemeinsame Projekte entwickeln könnten.