
Es ist schön, wenn in Polen Hunderttausende gegen ein vermeintlich drohendes Ende der polnischen EU-Mitgliedschaft auf die Straße gehen. Allerdings protestierten sie gegen einen PolExit, der nicht wirklich droht und vor allem von der polnischen Opposition als mobilisierendes Schreckgespenst benutzt wird.
Polen braucht die EU
Polens nationalkonservative PiS-Regierung hat kein Interesse, die EU zu verlassen. Die Milliarden aus den EU-Töpfen erleichtern ihr die Finanzierung einer ambitionierten Sozialpolitik, mit der sie bisher die Wahlen gewinnt. Auch braucht Polen die EU als Schutz gegen den aggresiven Nachbarn Russland.
Umgekehrt kann auch die EU Polen nicht aus dem Club werfen. Das ist rechtlich in den EU-Verträgen nicht vorgesehen. Ein EU-Mitgliedsstaat kann nur freiwillig gehen - wie Großbritannien. Auf Vertragsverletzungen kann die EU nur mit Sanktionen reagieren.
Ein Machtkampf über Rechtsstaatlichkeit
Was wir erleben, ist ein Machtkampf zwischen der EU und Polen. Die EU will zurecht ein Verbund demokratischer und rechtsstaatlicher Staaten bleiben. Polen dagegen verlangt, dass sich die EU aus seinen internen Angelegenheiten heraushält. Die PiS-geführte Regierung will ohne Störung von außen weiterhin die Justiz gleichschalten, um ohne justizielle Kontrolle regieren zu können.
Das Beispiel von Österreichs zurückgetretenem Bundeskanzler Sebastian Kurz dürfte die polnischen Regierungspolitiker*innen in ihrer Abneigung gegen richterliche Kontrolle bestärken. Kurz musste zurücktreten, nachdem ihm die Staatsanwaltschaft vorwarf, dass er und sein Umfeld mit Steuergeldern günstige Berichterstattung und Meinungsumfragen erkauften. Ihm droht eine Verurteilung wegen Bestechung.
Selbstermächtigung des EuGH 2018
Die polnische Regierung hat zwar Recht, wenn sie darauf hinweist, dass die EU ursprünglich keine Kompetenz hatte, den Aufbau der Justiz in den EU-Staaten zu kontrollieren. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) hat sich diese Macht aber durch ein strategisches Urteil 2018 verschafft. Seitdem sieht sich der EuGH dafür zuständig, einen „wirksamen Rechtsschutz" in den EU-Mitgliedsstaaten zu gewährleisten.
Die Selbstermächtigung des EuGH wäre unter gewöhnlichen Umständen umstritten gewesen. Angesichts der Konflikte mit Ungarn und Polen wurde sie jedoch weithin als richtig und notwendig akzeptiert. Da die EU an vielen wichtigen Stellen immer noch per Einstimmigkeit entscheidet, muss sie sicherstellen, dass sie nicht durch halb-autoritäre Regime erpressbar wird. Der Binnenmarkt, die Freizügigkeit der Bürger und die Justiz-Zusammenarbeit setzen auch voraus, dass überall in der EU ein ausreichendes Maß an Rechtsstaatlichkeit herrscht. Zudem wäre die EU in ihrer Außenpolitik wenig glaubwürdig, wenn sie sich für Rechtsstaatlichkeit in anderen Teilen der Welt einsetzt, diese aber in ihren eigenen Mitgliedsstaaten nicht gewährleisten könnte.
40 Milliarden Euro als Druckmittel
Noch kann die EU-Kommission nicht auf das neue polnische Urteil reagieren, denn es wird erst rechtswirksam, nachdem es im Gesetzblatt veröffentlicht wurde. Die Erfahrung lehrt, dass diese Veröffentlichung in heiklen Fällen manchmal lange hinausgezögert wird. Allerdings besteht wenig Zweifel, dass die EU-Kommission dann ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen einleiten wird. Falls der EuGH der Klage dann statt gibt und das polnische Verfassungsgericht seine Einschätzung nicht revidiert, könnte die EU-Kommission den Erlass täglicher Zwangsgelder in sechsstelliger Höhe gegen Polen beantragen. Dies hat sie Anfang September bereits mit Blick auf die polnische Disziplinarkammer für Richter gemacht, die entgegen einer einstweiligen EuGH-Verfügung weiterarbeitet.
Wirkungsvoll dürften auch direkte finanzielle Sanktionen sein. Als Grundlage hierfür hat die EU im letzten Dezember eine Verordnung beschlossen, die aber auf Klage von Polen und Ungarn derzeit noch vom EuGH überprüft wird. Die EU-Kommission hat zwar versprochen, das neue Instrument, mit dem Zuschüsse aus dem EU-Haushalt bei Rechtsstaatsmängeln ausgesetzt werden können, bis zu einem EuGH-Urteil nicht anzuwenden – wofür sie aus dem Europäischen Parlament heftig kritisiert wurde. Derweil hat die EU-Kommission aber einen anderen finanziellen Hebel gefunden, der viel wirksamer sein dürfte, weil es um rund 40 Milliarden Euro geht. Diese Summe soll Polen aus dem Corona-Aufbaufonds bekommen, um seine Wirtschaft zu digitalisieren und klimaneutral zu machen. Doch die EU-Kommission verzögert schon seit Wochen die Genehmigung des polnischen Investitionsplans. Kommissions-Vizepräsidentin Vera Jourová sagte im September, Polen müsse die Kommission erst überzeugen, dass es ein glaubhaftes Kontrollsystem für die Verwendung der EU-Mittel hat.
Es klingt so, also ob die EU doch am längeren Hebel sitzt.