Wolfgang Thierse zu Pegida

Pluralismus ist halt kein Idyll

Wolfgang Thierse18. Dezember 2014
Woche für Woche gehen Menschen auf die Straße, um „gegen die Islamisierung des Abendlandes“ zu protestieren. Dabei richten sich die Proteste gegen Ausländer, Medien und die Demokratie. Das hat bedrohliche Ähnlichkeit mit der Nazi-Propaganda der 20er und der 30er Jahre.

Proteste gegen eine behauptete Islamisierung des Abendlandes sind eine anschwellende Unmutsbewegung, die sich auf immer drastischere Weise gegen Ausländer und Flüchtlinge richtet, aber auch gegen die Politik, die Demokratie, die Medien, gegen „das System“ insgesamt. Das erinnert auf gespenstische Weise an die Nazi-Propaganda der 20er und der 30er Jahre. Das muss uns erschrecken, muss uns herausfordern.

Wenn man genau hinschaut, sind die Demonstranten keine homogene Gruppe: Neonazis, Rechtsextreme, Hooligans gehören dazu, viele Frustrierte und Wütende, viele sonst gänzlich unauffällige Bürger und jedenfalls mehr, als bei Wahlen der NPD ihre Stimme geben. Ist das überraschend? Die Heftigkeit des Wutausbruchs ja. Aber sonst? Zehn Jahre lang hat Wilhelm Heitmeyer mit seiner Bielefelder Forschergruppe die Einstellungen der Bürger dieses Landes untersucht. Das Ergebnis: Zwischen 10 und 20 Prozent haben minderheitenfeindliche Einstellungen – gegen Ausländer, Juden, Arbeitslose, Schwule, „Asoziale“. Heitmeyer fasst sie zusammen unter dem Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.

Bestürzend viele haben eine durchaus autoritäre Erlösungssehnsucht: Politik soll die ärgerlichen Probleme gefälligst ganz schnell lösen. Und auch der Erfolg des Sarrazin-Buches – gerade auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft – zeigt, wie groß das Potenzial ist, das jetzt auf grelle Weise sichtbar wird. (Die Nichtwähler sieht man ja nicht.)

Ostdeutsche mit besonderem Nachholbedarf

Auf den Demonstrationen von Pegida in Dresden und anderswo werden diffuse Ängste artikuliert und in aggressiven Ressentiments ausgedrückt. Das sind Ängste, die eine Reaktion auf die dramatischen sozialen, wirtschaftlichen, technischen, kulturellen Veränderungen der Gegenwart sind. Soziale Abstiegsängste vor allem, aber auch Ängste, die Ausdruck tiefgreifender sozialer und moralischer Verunsicherung sind, Ausdruck von ,Werte-Unsicherheit‘ und Entsolidarisierung.

Vor allem sind es offensichtlich ,Entheimatungs-Befürchtungen‘ angesichts der kulturellen Veränderungen, der anstrengenden Herausforderungen durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Pluralismus ist eben keine Idylle! Das zu begreifen und den Umgang damit zu lernen, das ist eine anstrengende Herausforderung, auch und gerade für Ostdeutsche, die – 40 Jahre eingesperrt – einen besonderen Nachholbedarf im Umgang mit kultureller, religiöser und sozialer Verschiedenheit haben.

Ängste werden zu ideologischem Popanz

Gewiss, die täglichen Nachrichten über islamistischen Terror, also über unter missbräuchlicher Berufung auf den Islam begangene Gewalttaten in der Welt, erzeugen verständlicherweise Ängste. Aber rechtfertigt dies den Verlust des Unterscheidungsvermögens? Ausgerechnet in Dresden, wo nur 0,2 Prozent der Bewohner Muslime sind, gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ kämpfen zu wollen, zeigt doch, dass die Ängste zu einem ideologischen Popanz gemacht werden.

Gewiss, das Zusammenleben mit Flüchtlingen, deren Neuaufnahme und Unterbringung läuft häufig nicht ohne Probleme ab. Kommunal- und Landespolitik haben Fehler gemacht, kommunikative Versäumnisse begangen. Aber rechtfertigt dies das Ausmaß an ausländerfeindlichem Hass, an aggressiver Ablehnung neuer Flüchtlinge, wie es auf den Demonstrationen hörbar wird? Eben nicht. Dass die AfD diese Stimmung auf ihre parteipolitischen Mühlen zu lenken versucht, sollte niemand übersehen und vergessen (auch die CDU nicht).

Sozialdemokraten in der Verantwortung

Was haben wir zu tun? Härte oder Verständnis, so fragen Journalisten. Das ist eine falsche Alternative. Zuerst und vor allem haben wir jeder Stimmungsmache gegen Minderheiten entschieden entgegenzutreten! Die erste Flüchtlingsunterkunft hat schon gebrannt. Wir haben hoffentlich nicht vergessen, was vor 20 Jahren in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen passiert ist!

Zweitens sollten wir die Menschen, die nicht begreifen wollen oder können, in welche Gesellschaft sie sich begeben, wofür sie ihre Ängste missbrauchen lassen, an ihre Verantwortung als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens erinnern.

Drittens müssen wir der populistischen Demagogie offensiv und argumentativ entgegentreten: Es gibt bei uns keine wirkliche Gefahr der Islamisierung, unser Rechtsstaat funktioniert – er geht gegen Salafisten und Straftäter egal welcher ideologischer Motivation vor. Unser Sozialstaat unternimmt die notwendigen Anstrengungen, Aufnahme- und Integrationsprobleme Schritt für Schritt zu lösen.

Viertens: Ängste überwindet man nicht durch Beschimpfungen oder Schulterklopfen. Gerade Sozialdemokraten sollten soziale (und auch kulturelle) Ängste ernstnehmen, sie zum Gegenstand des gesellschaftlichen Gesprächs machen. Vorurteile baut man nur ab durch Begegnung, durch argumentative Diskussion. Es ist nicht sicher, ob und wann die Demonstranten in ihrer Wut dazu bereit sein werden.

Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft

Fünftens und ganz grundsätzlich: Wir brauchen dringend und endlich – nach Jahrzehnten der nachwirkenden Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei – das breite Gespräch darüber, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist und immer mehr wird.

Was bedeutet das für unser Zusammenleben? Welche (europäischen) Regeln für Zuwanderung einerseits und für die Aufnahme von Flüchtlingen andererseits brauchen wir? Welche sozialen und kulturellen Verbindlichkeiten sind notwendig? Welche politischen und ethischen Gemeinsamkeiten sind unerlässlich, damit wir Vielfalt, Verschiedenheit, eben kulturelle und weltanschauliche Pluralität friedlich leben können? Was ist der Beitrag der zu uns Gekommenen und zu uns Kommenden zu unserem Reichtum, zu unserer Zukunft? Welche moralischen („abendländischen“) Verpflichtungen haben wir gegenüber Flüchtlingen? Was sind wir bereit zu leisten für die Bekämpfung von Flüchtlingsursachen? – Eine unbequeme, aber notwendige Diskussion, zu der gerade die SPD bereit sein und einladen sollte!

Die Voraussetzungen dafür sind gut, sie sind besser als in den 90er Jahren. Wir Deutschen haben gelernt. Viele sind unterwegs, Flüchtlingen zu helfen. Die Solidaritätsbereitschaft ihnen gegenüber ist groß. Das sollten wir trotz der lärmenden Montagsdemos, die so viel mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wahrlich nicht übersehen!

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Kommentare

Geschichte wiederholt sich

Leider wiederholt sich die Geschichte. Am Ender der Weimarer Republik sah es genau so aus. Statt Juden, .... sind es diesmal Flüchtlinge, Asylbewerber ...

Deutsche führen wieder Krieg und fühlen sich wieder stark genug, um die gesamte Menschheit in den Untergang zu führen.

Leider, Herr Rainer Schneider ...

... scheinen Sie der kruden Propaganda von PEGIDA, AfD & Co. selbst auf den Leim zu gehen: Deutschland führt nirgendwo Krieg, es hilft - wie im Falle Afghanistans oder der Kurden - den Schwächeren, sich gegen Terror und Vertreibung zu verteidigen. Bitte bedenken Sie: Hätten nicht andere Völker das gleiche für uns Deutsche getan,wären wir Hitler und seine Clique nicht losgeworden.

Nicht so ganz richtig

Ich denke, dass kann man nicht mit Kurden/Afghanistan vergleichen.

Das deutsche Volk hat meines Erachtens nach "Hitler und seiner Clique" erst die Tore geöffnet. Auch wenn es nicht so gemütlich klingt, aber das hatte man sich damals selbst zuzuschreiben. Wer den Rattenfängern hinterherrennt, muss am Ende eben auch die Folgen wie Krieg usw. in Kauf nehmen. Das System hätte nicht funktioniert, wenn keiner mitgemacht hätte.

Natürlich kann man das nicht mit heute vergleichen, die Gesellschaft ist eine völlig andere geworden. Auch wenn es zugegebenermaßen schon beängstigende Parallelen gibt...

AfD, Pegida und CO

Moin aus Bonn, leider entwickelt sich in Deutschland, wie in anderen Ländern, eine zunehmend rechtsradikale Strömung deren bräunliche Ausdünstungen dankbar von der sogenannten AfD aufgenommen werden und in knallharte rechtspopulistische-rechtsradikale Politik umgesetzt werden. Bei allem Verständnis für die ökonomisch schwierige Lage eines Teils der Pegidademonstranten und den Globalisierungsängsten der Wähler der sogenannten AfD oder umgekehrt. Jede(r) WählerIn, jede(r) DemonstrantIn hat auch eine Verantwortung für das Gemeinwesen und vielleicht sollten sich auch wir, als SozialdemokratInnen, aufhören in erster Linie Gedanken über die Integrationsfähigkeit und -willigkeit von Flüchtlingen und Migranten machen und uns stattdessen mal selbstkritisch mit den wildgewordenen WutbürgerInnen auseinandersetzen und deren Integrationsbereitschaft in die offene Gesellschaft hinterfragen! Für mich sind nicht Migranten und Flüchtlinge das Problem, sondern die rassistisch-nationalchauvinistischen WutbürgerInnen a la Pegida, AfD und Co. Diese sind eine reale Gefahr für unsere liberale und offene Gesellschaft - dies sollten SozialdemokratInnen nach parteiintern und -extern kommunizieren, statt Verständnis für diese Personen aufzubringen! Wehret den Anfängen! Grüße und frohe Weihnachten aus Bonn, Siebo M. H. Janssen.

Herr Thierse hetzt auch, gegen Schwaben

Vielleicht sollte sich H. Thierse mal an die eigene Nase fassen. Schwabenfeindliche Hetzte in Berlin. Wer so gegen alles Andersartige eingestellt ist, sollte nicht gegen Pegida sprechen.