Proteste gegen eine behauptete Islamisierung des Abendlandes sind eine anschwellende Unmutsbewegung, die sich auf immer drastischere Weise gegen Ausländer und Flüchtlinge richtet, aber auch gegen die Politik, die Demokratie, die Medien, gegen „das System“ insgesamt. Das erinnert auf gespenstische Weise an die Nazi-Propaganda der 20er und der 30er Jahre. Das muss uns erschrecken, muss uns herausfordern.
Wenn man genau hinschaut, sind die Demonstranten keine homogene Gruppe: Neonazis, Rechtsextreme, Hooligans gehören dazu, viele Frustrierte und Wütende, viele sonst gänzlich unauffällige Bürger und jedenfalls mehr, als bei Wahlen der NPD ihre Stimme geben. Ist das überraschend? Die Heftigkeit des Wutausbruchs ja. Aber sonst? Zehn Jahre lang hat Wilhelm Heitmeyer mit seiner Bielefelder Forschergruppe die Einstellungen der Bürger dieses Landes untersucht. Das Ergebnis: Zwischen 10 und 20 Prozent haben minderheitenfeindliche Einstellungen – gegen Ausländer, Juden, Arbeitslose, Schwule, „Asoziale“. Heitmeyer fasst sie zusammen unter dem Begriff „gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit“.
Bestürzend viele haben eine durchaus autoritäre Erlösungssehnsucht: Politik soll die ärgerlichen Probleme gefälligst ganz schnell lösen. Und auch der Erfolg des Sarrazin-Buches – gerade auch in der sogenannten Mitte der Gesellschaft – zeigt, wie groß das Potenzial ist, das jetzt auf grelle Weise sichtbar wird. (Die Nichtwähler sieht man ja nicht.)
Ostdeutsche mit besonderem Nachholbedarf
Auf den Demonstrationen von Pegida in Dresden und anderswo werden diffuse Ängste artikuliert und in aggressiven Ressentiments ausgedrückt. Das sind Ängste, die eine Reaktion auf die dramatischen sozialen, wirtschaftlichen, technischen, kulturellen Veränderungen der Gegenwart sind. Soziale Abstiegsängste vor allem, aber auch Ängste, die Ausdruck tiefgreifender sozialer und moralischer Verunsicherung sind, Ausdruck von ,Werte-Unsicherheit‘ und Entsolidarisierung.
Vor allem sind es offensichtlich ,Entheimatungs-Befürchtungen‘ angesichts der kulturellen Veränderungen, der anstrengenden Herausforderungen durch das Fremde und die Fremden, die uns nahegerückt sind – durch die Globalisierung, die offenen Grenzen, die Zuwanderer, die Flüchtlinge. Pluralismus ist eben keine Idylle! Das zu begreifen und den Umgang damit zu lernen, das ist eine anstrengende Herausforderung, auch und gerade für Ostdeutsche, die – 40 Jahre eingesperrt – einen besonderen Nachholbedarf im Umgang mit kultureller, religiöser und sozialer Verschiedenheit haben.
Ängste werden zu ideologischem Popanz
Gewiss, die täglichen Nachrichten über islamistischen Terror, also über unter missbräuchlicher Berufung auf den Islam begangene Gewalttaten in der Welt, erzeugen verständlicherweise Ängste. Aber rechtfertigt dies den Verlust des Unterscheidungsvermögens? Ausgerechnet in Dresden, wo nur 0,2 Prozent der Bewohner Muslime sind, gegen die „Islamisierung des Abendlandes“ kämpfen zu wollen, zeigt doch, dass die Ängste zu einem ideologischen Popanz gemacht werden.
Gewiss, das Zusammenleben mit Flüchtlingen, deren Neuaufnahme und Unterbringung läuft häufig nicht ohne Probleme ab. Kommunal- und Landespolitik haben Fehler gemacht, kommunikative Versäumnisse begangen. Aber rechtfertigt dies das Ausmaß an ausländerfeindlichem Hass, an aggressiver Ablehnung neuer Flüchtlinge, wie es auf den Demonstrationen hörbar wird? Eben nicht. Dass die AfD diese Stimmung auf ihre parteipolitischen Mühlen zu lenken versucht, sollte niemand übersehen und vergessen (auch die CDU nicht).
Sozialdemokraten in der Verantwortung
Was haben wir zu tun? Härte oder Verständnis, so fragen Journalisten. Das ist eine falsche Alternative. Zuerst und vor allem haben wir jeder Stimmungsmache gegen Minderheiten entschieden entgegenzutreten! Die erste Flüchtlingsunterkunft hat schon gebrannt. Wir haben hoffentlich nicht vergessen, was vor 20 Jahren in Hoyerswerda, Rostock, Mölln und Solingen passiert ist!
Zweitens sollten wir die Menschen, die nicht begreifen wollen oder können, in welche Gesellschaft sie sich begeben, wofür sie ihre Ängste missbrauchen lassen, an ihre Verantwortung als Bürger eines demokratischen Gemeinwesens erinnern.
Drittens müssen wir der populistischen Demagogie offensiv und argumentativ entgegentreten: Es gibt bei uns keine wirkliche Gefahr der Islamisierung, unser Rechtsstaat funktioniert – er geht gegen Salafisten und Straftäter egal welcher ideologischer Motivation vor. Unser Sozialstaat unternimmt die notwendigen Anstrengungen, Aufnahme- und Integrationsprobleme Schritt für Schritt zu lösen.
Viertens: Ängste überwindet man nicht durch Beschimpfungen oder Schulterklopfen. Gerade Sozialdemokraten sollten soziale (und auch kulturelle) Ängste ernstnehmen, sie zum Gegenstand des gesellschaftlichen Gesprächs machen. Vorurteile baut man nur ab durch Begegnung, durch argumentative Diskussion. Es ist nicht sicher, ob und wann die Demonstranten in ihrer Wut dazu bereit sein werden.
Deutschland ist eine Einwanderungsgesellschaft
Fünftens und ganz grundsätzlich: Wir brauchen dringend und endlich – nach Jahrzehnten der nachwirkenden Lebenslüge, dass Deutschland kein Einwanderungsland sei – das breite Gespräch darüber, dass Deutschland eine Einwanderungsgesellschaft geworden ist und immer mehr wird.
Was bedeutet das für unser Zusammenleben? Welche (europäischen) Regeln für Zuwanderung einerseits und für die Aufnahme von Flüchtlingen andererseits brauchen wir? Welche sozialen und kulturellen Verbindlichkeiten sind notwendig? Welche politischen und ethischen Gemeinsamkeiten sind unerlässlich, damit wir Vielfalt, Verschiedenheit, eben kulturelle und weltanschauliche Pluralität friedlich leben können? Was ist der Beitrag der zu uns Gekommenen und zu uns Kommenden zu unserem Reichtum, zu unserer Zukunft? Welche moralischen („abendländischen“) Verpflichtungen haben wir gegenüber Flüchtlingen? Was sind wir bereit zu leisten für die Bekämpfung von Flüchtlingsursachen? – Eine unbequeme, aber notwendige Diskussion, zu der gerade die SPD bereit sein und einladen sollte!
Die Voraussetzungen dafür sind gut, sie sind besser als in den 90er Jahren. Wir Deutschen haben gelernt. Viele sind unterwegs, Flüchtlingen zu helfen. Die Solidaritätsbereitschaft ihnen gegenüber ist groß. Das sollten wir trotz der lärmenden Montagsdemos, die so viel mediale Aufmerksamkeit auf sich ziehen, wahrlich nicht übersehen!