
Superlative sollten bekanntlich in der politischen Diskussion nicht zu häufig verwendet werden. Ein „Systemwechsel“ ist ein solcher Superlativ, der im Falle des zweiten Pflegestärkungsgesetzes aber vollkommen gerechtfertigt ist. Am Freitag hat der Deutsche Bundestag dieses Gesetz beschlossen. Das Leitbild von Pflege wird damit neu ausgerichtet. Das heißt, es geht uns nicht nur um eine Reform der Pflegeversicherung, sondern grundsätzlich darum zu definieren, auf welcher Grundlage Leistungsansprüche aus der Pflegeversicherung abgeleitet werden.
Diese Definition erfolgt im Gesetz durch den neuen Pflegebedürftigkeitsbegriff. Um klarzumachen, warum hier ein Systemwechsel bevorsteht, muss man verstehen, wie die derzeitige Ableitung von Leistungsansprüchen funktioniert.
Den ganzen Menschen im Blick
Im derzeitigen System wird der Mangel erhoben, also festgestellt, was ein Pflegebedürftiger nicht mehr selbst leisten kann. Dies wird in Minuten abgebildet und führt zur Einstufung in Pflegestufen.
Der neue Pflegebedürftigkeitsbegriff erfasst, was jemand braucht, um am gesellschaftlichen Leben teilhaben zu können. Mobilität, kognitive und kommunikative Fähigkeiten, Verhaltensweisen, Selbstversorgung, Bewältigung von therapiebedingten Anforderungen und Gestaltung des Alltagslebens: All dies wird in Zukunft die Grundlage bei der Feststellung des Pflegegrades sein.
Mit dieser Frage nehmen wir somit den gesamten Pflege- und Betreuungsbedarf eines Menschen in den Blick. Damit werden wir endlich auch nicht nur körperliche Beeinträchtigungen, sondern auch kognitive Fähigkeiten von Pflegebedürftigen berücksichtigen. Dies wird vor allem Demenzkranken helfen, die im bisherigen System völlig unzureichend erfasst werden.
Pflegende entlasten!
Ohne die engagierte Arbeit von Pflegekräften ist eine gute Pflege nicht denkbar. Sie sind tagtäglich in ihrer Arbeit mit enormen Herausforderungen und Belastungssituationen konfrontiert. Daher muss die Personalbemessung in der Pflege überarbeitet werden. Mit dem Pflegestärkungsgesetz soll nun bis 2020 ein wissenschaftlich fundiertes Konzept für die Personalbemessung in Pflegeeinrichtungen auf Basis des neuen Pflegebedürftigkeitsbegriffs erarbeitet werden, um Pflegende zu entlasten.
Eine weitere, für uns als Sozialdemokraten wichtige Änderung betrifft den zu leistenden pflegerischen Eigenanteil in stationären Einrichtungen. Da es sich bei der Pflegeversicherung nicht um eine Vollversicherung handelt, ist es für uns wichtig, dass die Eigenanteile in stationären Einrichtungen der Pflegebedürftigen oder ihrer Angehörigen gerecht sind und nicht dazu führen, dass eine höhere Pflegebedürftigkeit zu höheren pflegerischen Eigenanteilen führt.
Bisher bestimmte sich dieser Eigenanteil in einer stationären Pflegeeinrichtung nach der Pflegestufe des Patienten. Somit zahlten stärker Pflegebedürftige einen höheren Eigenanteil. Auf Druck der SPD wird dieses System zugunsten eines einheitlichen Eigenanteils für alle Pflegebedürftigen verändert. Eine höhere Pflegebedürftigkeit führt nicht mehr zu höheren Eigenteilen.
Für ein solidarisch finanziertes Versicherungssystem
Wir gehen daher davon aus, dass mit der Pflegereform 500 000 Menschen zusätzlich Anspruch auf Leistungen aus der Pflegeversicherung haben werden. Nicht zuletzt deswegen hat die Große Koalition die Beitragssätze für die Pflegeversicherung um 0,5 Prozent erhöht. Wir wissen, dass ein solcher Schritt nicht immer populär ist, aber die hohe Zustimmung innerhalb der Bevölkerung zeigt: Ein solidarisch finanziertes Versicherungssystem, das pflegebedürftigen Menschen und ihren Angehörigen dringend notwendige Leistungen erfüllt, ist gesellschaftlich gewünscht und akzeptiert. Dies ist eine sehr wichtige Erkenntnis. Es zeigt nämlich, dass in unserer Gesellschaft ein breiter Konsens besteht, dass denjenigen geholfen werden muss, die nicht mehr vollkommen selbstständig am Leben teilhaben können. An dieser Frage lässt sich auch gesellschaftlicher Zusammenhalt, Mitmenschlichkeit und Solidarität messen.
Umso wichtiger war es uns, dass diese Pflegereform zu mehr Gerechtigkeit führt. Das Pflegestärkungsgesetz ist daher ein Systemwechsel, ein Systemwechsel hin zu einer gerechteren, solidarischeren und menschlicheren Pflege.