vorwärts.de: Grundsatzprogramme kennt die SPD seit fast 150 Jahren. Die beschäftigen sich mit inhaltlichen Fragen. Warum jetzt eines für Organisationspolitik?
Andrea Nahles: Die SPD ist und bleibt Programmpartei. Gerade diskutieren wir engagiert, wie gesellschaftlicher Fortschritt organisiert werden kann, damit alle davon profitieren
und nicht nur wenige. Ausgangsbasis unserer politischen Aktivitäten ist also immer die Motivation, etwas für die Menschen zum Positiven zu verändern. Vor Ort in der Kommune wie auf der
Bundesebene. Es reicht aber nicht, die richtigen Inhalte zu haben, wir müssen sie auch erfolgreich an den Mann und die Frau bringen. Dafür ist eine bestmögliche Organisation notwendig. Darum geht
es bei unseren Vorschlägen. Mit dem Begriff Grundsatzprogramm wollen wir verdeutlichen, dass es nicht um ein paar Einzelentscheidungen auf dem kommenden Parteitag geht, sondern um eine
langfristig angelegte Orientierung für notwendige Veränderungen in der Organisationsrealität unserer Partei. Wir wollen nicht nur programmatisch auf der Höhe der Zeit sein, sondern auch wieder
organisatorisch die modernste Partei Europas werden.
Viele sagen aber: Stimmen die Inhalte, dann geht es auch der Partei gut. Also konzentrieren wir uns auf die Programm-Debatte und lassen die Strukturen besser so, wie sie sind.
Alleine die Mitgliederentwicklung der SPD seit Anfang der siebziger Jahre beweist doch, dass das so allein nicht stimmt. Die SPD hatte in den letzten vier Jahrzehnten immer wieder Höhe- und
Tiefpunkte. Die Tendenz bei der Mitgliederentwicklung hat das nicht beeinflusst. Die kannte nur eine Richtung: bergab. Natürlich gab es Zeiten- gerade im letzten Jahrzehnt - in denen uns viele
Mitglieder aus politischen Gründen verlassen haben. Aber die Halbierung unserer Mitgliedszahlen hat vor allem strukturelle Gründe.
Welche Gründe sind das und kann man dagegen überhaupt etwas machen?
Natürlich kann man dagegen was tun. Das beweisen übrigens viele Ortsvereine, die sich gegen diesen Trend positiv entwickelt haben. In sieben Werkstattgesprächen mit Vertreterinnen und
Vertretern aus allen Ebenen der Partei sind wir dem auf den Grund gegangen. Und siehe da: überall dort, wo eine positive Willkommens- und Beteiligungskultur herrscht, dort, wo sich SPD aktiv mit
der Gesellschaft vernetzt, dort wo die SPD überholte, nicht mehr passende Strukturen verändert, können wir erfolgreich sein.
So einfach ist also das Erfolgsrezept?
Im Grunde ja. Die Gesellschaft verändert sich. Und wir müssen das organisatorisch nachvollziehen, denn eine bewegliche Gesellschaft und eine starre Parteiorganisation, das geht immer
weniger zusammen. Die Ansprüche der Bürgerinnen und Bürger an politischer Teilhabe sind gewachsen. Sie wollen sich nicht mehr nur einfügen, sondern sich um Themen, die sie berühren, selber
kümmern. Die Arbeitsverhältnisse und Arbeitszeiten haben sich verändert. Ein Fünftel der unter 30-jährigen wohnt weniger als drei Jahre am selben Ort. Die Rollenbilder in unserer Gesellschaft
haben sich verändert. Auch Dank der SPD. Politische Teilhabe muss sich an den Takt moderner Familien gewöhnen. Leider hat unsere Demokratie aber auch immer mehr weiße Flecken. Wir sollten kein
Traumbild von ihr zeichnen. Immer mehr Menschen nehmen nicht mehr an der demokratischen Willensbildung in unserem Land teil. Soziale Ausgrenzung und demokratische Abkopplung gehen hier oftmals
Hand in Hand. Das hält unsere Demokratie auf Dauer nicht aus. Und: Keiner Partei schadet das so sehr wie der SPD. Auch darauf muss die SPD wieder eine Antwort finden.
Klingt nach dem Ende der klassischen Ortsvereinsarbeit?
Nein, überhaupt nicht! Die Partei vor Ort wird gebraucht. Als Ansprechpartner, als Träger der kommunalen Selbstverwaltung, als Keimzelle für den ganzen Laden. Aber auch viele Ortsvereine
müssen sich verändern: Strukturen, Sitzungszeiten, Beteiligungsformen überdenken. Wir können und wollen dazu Anstöße und Anregungen geben. Die Umsetzung liegt in der Verantwortung vor Ort.
Darüber hinaus liegt es aber in unserer aller Verantwortung, auch für diejenigen Beteiligungsmöglichkeiten anzubieten, die die SPD unterstützen wollen, aber keinen Zugang zum Ortsverein finden
oder finden wollen, zum Beispiel weil es in ihrer Nähe keinen gibt, weil sie an anderen Themen interessiert sind oder vor Ort nicht verankert sind. Neben den regionalen, örtlich gebundenen Türen
in die Partei müssen darum vermehrt thematische und projektorientierte Zugänge ermöglichen, z.B. über Themenforen.
Warum muss man nicht mehr Mitglied werden, wenn man sich bei der SPD einbringen will?
Wer wirklich bei uns volle Beteiligungsrechte haben will, muss auf jeden Fall Mitglied sein. Aber wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass viele Menschen eine Distanz zu Großorganisationen
verspüren. In Kampagnen brauchen wir aber für Politik, Personen und Positionen viele, die unsere Botschaften weitertragen. Warum sollen wir auf die Meinung und Kompetenzen derjenigen verzichten,
die im Herzen den sozialdemokratischen Gedanken tragen, auch wenn sie sich noch nicht vorstellen konnten, Mitglied der SPD zu werden. Ich finde nicht ehrenrühriges daran, wenn man mehr Menschen
zu einem Teil unserer großartigen Bewegung macht - in welcher Form das dann auch immer passiert. Zum Beispiel bei Vorwahlen zur Kandidatenfindung für öffentliche Ämter. Oder bei Bürgerparteitagen
zu bestimmten Themen. Oder in Themenforen, um auf bestimmte Zielgruppen zuzugehen. Am besten natürlich gleich als Mitglied der SPD. Ich bin Mitglied der SPD geworden, weil Teil dieser Partei -
ihrer Geschichte und ihrer Zukunft - sein wollte. Dieser Stolz wird nicht geschmälert, nur weil wir auch einmal Sympathisanten ohne Parteibuch nach ihrer Meinung fragen. Wir sind eine politische
Bewegung und kein Buchclub. Wir müssen offen für verschiedene Formen des Engagements bleiben.
Und es gilt: Wir wollen die Einbeziehung von Nichtmitgliedern ermöglichen, nicht vorschreiben. Bei welchem Thema, bei welcher Entscheidung oder bei welcher Kampagne das letztlich sinnvoll
ist, entscheidet die zuständige Parteigliederung selbst.
Trotzdem: Benachteiligt das nicht die zahlenden Mitglieder?
Machen wir uns mal ehrlich an dieser Stelle: Manche tun so, als ob die Beteiligung normaler Mitglieder heute schon gang und gäbe wäre. Dem ist mitnichten so. Im Gegenteil: viele zahlende
Mitglieder hören - neben dem Vorwärts - einmal im Jahr etwas von der SPD, wenn sie zur Jahresmitgliederversammlung eingeladen werden. Und dann bekommen sie eine Einladung mit lauter
Fachchinesisch auf der 23 Punkte langen Tagesordnung: "Unterbezirksdelegiertenwahl" oder "Bericht aus dem Landesparteirat". Hand aufs Herz: Wen animiert das zur Teilnahme? Ergo:
Mitgliederbeteiligung und Nichtmitgliedereinbindung sind überhaupt kein Widerspruch. Beides ist möglich und nötig. Und beides brauchen wir viel mehr als bisher. Beides müssen wir auf den Schirm
nehmen und um beides zu erreichen, müssen wir aktiv etwas in der SPD verändern.
Aber wenn mehr Mitglieder und auch noch Nichtmitglieder beteiligt werden, schwächt das nicht die Möglichkeiten derjenigen, die sich als so genannte Funktionäre quasi täglich für die SPD
engagieren?
Ich kenne viele sehr engagierte Funktionäre, die vor allem darüber stöhnen, dass sie sich oft alleine gelassen fühlen, zu viel Arbeit auf zu wenigen Schultern lastet, keine Zeit mehr für
die Familie bleibt. Wir müssen die Chance erkennen, dass das Potential unserer Unterstützerinnen und Unterstützer bei Aktionen, im Wahlkampf und bei programmatischen Diskussionen nicht
ausgeschöpft ist. Mehr Mitsprache ermöglichen bedeutet auch mehr Mitarbeit einzuwerben. Beides hängt unmittelbar zusammen. Wer Herrschaftswissen hortet, steht irgendwann allein am Info-Stand.
Es geht also in erster Linie um eine Veränderung unserer Organisationskultur?
Es geht vor allem um Praxisänderung, nicht um Satzungsänderung. Es geht darum, die Notwendigkeit von Veränderungen aufzuzeigen, für Neues zu motivieren, Veränderungen zu ermöglichen. Es
geht um allgemeingültige Regeln für neue Beteiligungsformen, die auch Missbrauch ausschließen. Und es geht um viele konkrete Vorschläge, die uns allen helfen sollen.
Zum Beispiel?
Wir wollen eine bundesweite Service-Stelle für Mitglieder einrichten, die immer dann weiterhilft, wenn vor Ort die Möglichkeiten erschöpft sind. Wir wollen die Unterbezirks- und
Kreisverbände stärken, in dem wir einen Innovationsfonds einrichten, der Veränderungsprozesse auch finanziell unterstützt. Wir wollen eine neue Beitragstabelle beschließen, die einlädt und nicht
abschreckt. Wir wollen unsere Webseite weiter vom Verlautbarungsorgan zur Diskussionsplattform für Politik weiterentwickeln. Und auch auf der Bundesebene stellen wir uns der Frage: wie effizient
sind unsere Gremienstrukturen.
Ein ambitioniertes Programm…
… und ein nötiges!
Was halten Sie von den Plänen zur Reform der SPD?
Diskutieren Sie mit!
Der Vorschlag der Parteiführung im Wortlaut