
Wir sind heute zusammengekommen, um an Hans-Jochen Vogel zu denken, um ihn zu ehren und uns von ihm zu verabschieden. Wir trauern um ihn und um den Verlust eines Großen der Sozialdemokratie. Wir sind dankbar für sein Lebenswerk. Sein Vorbild bleibt uns Verpflichtung.
Ein Leben im Dienst der Menschen
Sein Leben stand ganz im Dienst der Menschen. Für sie hat er gearbeitet, gekämpft und gestritten – in vielen herausragenden Funktionen: Als jüngster Oberbürgermeister einer deutschen Millionenstadt, als Bundesminister, als Regierender Bürgermeister von Berlin, als Fraktions-Vorsitzender der SPD im Deutschen Bundestag und als Parteivorsitzender der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Wer mit 34 Jahren zum Oberbürgermeister von München gewählt und sechs Jahre später mit noch größerer Mehrheit bestätigt wird, der hat eines ganz sicher gewonnen: das Vertrauen der Menschen.
Über seinen Lebensweg könnten viele hier berichten, nicht nur über große Erfolge, sondern auch über bittere Niederlagen und aufopfernden Einsatz wie die Kanzlerkandidatur 1983 in schier aussichtsloser Lage oder über die harten Jahre der Opposition. Immer wieder ist die Rede von dem Merkzettel mit der Aufschrift „Weiterarbeiten – nicht verzweifeln“, den Herbert Wehner ihm zugesteckt haben soll. Ob es diesen Zettel nun gab oder auch nicht. Die Worte waren sein Leitsatz.
Ein wegweisendes Verständnis von Verantwortung
Hans-Jochen Vogel war ein großer sozialer Demokrat. Er hat die „Prinzipientreue“ als Wert rehabilitiert. Er hat vorgelebt, was es wert ist, Haltung zu haben. Ihn auf Ordnung, Disziplin und Effizienz zu reduzieren, griffe freilich viel zu kurz. Das würde völlig ausblenden, was er mit seiner Akribie erreichen wollte und erreicht hat. Und das war viel.
Er ist nicht nur der Vater der Münchner S- und U-Bahn und der olympischen Spiele von 1972. Er ist auch Vater der Reform des Eherechts und des Paragrafen 218. Als Parteivorsitzender hat er 1988 ein neues Parteiprogramm vorangetrieben. Er stand dafür, dass darin die Ziele „Sicherung unserer Lebensgrundlagen“, „gute Arbeit“ und „soziale Gerechtigkeit“ miteinander verknüpft wurden. Er war es, der 1988 die Quotierung in der SPD durchgesetzt hat.
Sein Verständnis von politischer Verantwortung, gespeist aus sozialdemokratischen Grundüberzeugungen und katholischer Soziallehre, war modern und wegweisend.
Ideengeber, Beurteiler und Mahner
Heute möchte ich sagen, was ich besonders mit ihm verbinde: Natürlich kannte ich ihn viel besser als er mich aus seinen Begegnungen mit Johannes Rau, den ich als Regierungssprecher aus NRW begleitet habe. Und ich kannte ihn aus Berichten guter Freundinnen und Freunde, die eng mit ihm zusammen gearbeitetet haben.
Deshalb war mein Bild geprägt von Erzählungen über die sagenhafte Gewissenhaftigkeit, den hohen Anspruch an seine Umgebung, selbstverständlich auch über die legendären Klarsichthüllen und über seine Bereitschaft, konzentriert zuzuhören.
Der unmittelbare persönliche Zugang kam mit dem Vorsitz der SPD erst spät. Es war ein großer Gewinn. HJV beeindruckte Saskia Esken und mich zutiefst als Ideengeber, Beurteiler und Mahner.
Unsere Reden auf dem Parteitag im vergangenen Dezember hätten ihm gut gefallen, ließ er uns beide in unserem ersten gemeinsamen Telefonat wissen. Dann folgte sogleich der Hinweis auf sein „Büchlein“ „Mehr Gerechtigkeit“, in dem er Vorschläge zur Bodenpolitik präsentiert. Vorschläge, die die Bezeichnung „progressiv“ mehr als verdient haben. Auf jahrzehntelange Erfahrung gestützt. Mit Zahlen und Fakten akribisch unterlegt.
Die Wirklichkeit zum Besseren verändern
HJV hat sich nicht mit grundsätzlichen Überlegungen und Forderungen begnügt. Er wollte die Wirklichkeit gestalten, zum Besseren verändern. Deshalb hat er die Dinge genau durchdacht, Statistiken durchforstet, Folgen veranschlagt und Nebenwirkungen abgeschätzt. Einige Passagen seines Buchs sind so praktisch und so konkret, dass sie Teil einer Kabinettvorlage für die Bundesregierung zur Bodenrechtsreform sein könnten – ja, werden müssen.
Sein erstes Nachhaken, was davon in das Programm zur Bundestagswahl einfließen werde, ließ nach unserem Telefonat nicht lange auf sich warten. Das zweite und dritte Nachhaken auch nicht…
Am 3. Februar habe ich ihn im Augustinum besucht und zu seinem 94. Geburtstag gratuliert. Ich war tief beeindruckt, wie dieser an Jahren alte Mann allen körperlichen Malaisen zum Trotz hellwach, präzise und bestens informiert war. Auch da sprachen wir über seine Vorschläge, wie das Bodenrecht geändert und die Sozialbindung des Eigentums durchgesetzt werden müsse. Grund und Boden sei unvermehrbar und unverzichtbar. Deshalb gehöre das Eigentum an Wohngrundstücken und der Wertzuwachs durch die Baulanderschließung zum größtmöglichen Teil in die öffentliche Hand. Das war sein Credo. Es ist auch unseres.
Verteidiger des Rechtsstaats
Hans-Jochen Vogel war seiner Zeit auch bei anderen Fragen voraus.
Dass der Rechtsextremismus die größte politische Gefahr nicht nur für Deutschland ist, hat er früher erkannt als viele. Im Literaturhaus hier in München hat er 2013 gesagt: „...der Staat muss gerade nach der NSU-Mordserie den Rechtsterrorismus endlich ernst nehmen und nachdrücklich bekämpfen.“ Schon 1993 hat er gemeinsam mit Frauen und Männern aus allen Teilen Deutschlands den Verein „Gegen Vergessen – Für Demokratie“ gegründet. Viele Jahre hatte er den Vorsitz inne.
Menschenfeindlichkeit darf in unserem Land keinen Platz haben, unter welchem Namen oder Deckmantel auch immer. Auch das war sein Credo und zugleich Auftrag für uns. Für ihn gehörten Rechtsstaat, Sozialstaat und soziale Demokratie zusammen; sie zu verteidigen war sein Anliegen – auch in bitteren Zeiten wie im Herbst 1977. Als manch einer ins Grübeln darüber geriet, wie weit unser Grundgesetz es erlaubt, dem Terror die Stirn zu bieten, gab es für ihn kein Wackeln. Das bleibt sein Vermächtnis für uns, die nach ihm kommen. Das gilt für Saskia Esken, für Rolf Mützenich als Fraktionsvorsitzenden ebenso wie für mich.
Er hat sich nie vor Verantwortung gedrückt
Hans-Jochen Vogel war ein Mann mit höchsten Ansprüchen an sich und an andere, mit festen Überzeugungen und mit einem inneren Kompass. Gerade deshalb war er offen dafür, dazuzulernen und frühere Auffassungen zu korrigieren, gerade auch im Verhältnis zu den Anliegen der jungen Generation.
Uns Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten hat er viel gegeben. Wir sind stolz auf ihn. Er hat seine Partei nicht für unfehlbar gehalten, aber er hat sich nie gegen seine Partei zu profilieren versucht. Und er hat sich nie davor gedrückt, Aufgaben in einer Zeit zu übernehmen, in der man nicht annehmen durfte, mit Anerkennung überschüttet zu werden.
Auch das gehörte zu seinem Verständnis von politischer Verantwortung.
Ein Vermächtnis, dem wir uns verpflichtet fühlen
Ich werde nie vergessen, dass sich Hans-Jochen geradezu geehrt fühlte, als ich bei ihm anfragte, ob ich ihn an seinem Geburtstag besuchen dürfe. Schon da ging es ihm nicht gut, aber er freute sich auf den Besuch seines Parteivorsitzenden. Heute ist es für mich eine Ehre, zu Ihnen und über ihn sprechen zu dürfen.
Hans-Jochen Vogel selbst hätte wohl energisch auf den Hinweis bestanden, wieviel seine Frau Liselotte zu seinem Leben beigetragen hat. Zu Recht! Ohne ihren klugen, energischen und warmherzigen Rat wäre sein Lebenswerk nicht zu denken. Liebe Frau Vogel, wir danken Ihnen von Herzen dafür.
Gibt es etwas Schöneres, als über einen, der von uns gegangen ist, sagen zu können: Du hinterlässt nicht nur viele Erinnerungen, du hinterlässt uns einen Aufgabenzettel, der aktueller nicht sein könnte? Ein Vermächtnis, dem wir uns verpflichtet fühlen, auch wenn uns dein mahnendes Nachhaken fehlen wird.
Danke Hans-Jochen!