
Statt großer Kundgebungen gab es wegen Corona dieses Jahr am 1. Mai zum ersten Mal nur ein Programm im Internet. Was verbinden Sie mit dem „Tag der Arbeit“?
Der 1. Mai lebt von Emotionen, von Symbolik und von Kampfeswillen. Die politische Linke symbolisiert an diesem Tag ihr Dasein an sich. Digital konnte das in diesem Jahr leider nur sehr begrenzt rübergebracht werden.
In Ihrem Buch „Verantwortung“ fordern Sie, den 1. Mai „nicht nur als Folklore“ zu begehen. Woran denken Sie dabei?
Mich stört, wenn Lehrer oder Angestellte zum 1. Mai so tun, als wären sie die großen Arbeiter oder Gewerkschafter, am besten noch begleitet von einer Reihe von Facebook-Posts. Das hat für mich mit dem Sinn des 1.Mai nichts zu tun, sondern ist einfach nur Inszenierung oder eben Folklore – vor allem, wenn man sich während des restlichen Jahres eher mit Klimaschutz, guter Ernährung oder Identitätspolitik beschäftigt. Aus meiner Sicht ist das weder authentisch, noch ehrlich.
Der 1. Mai steht für Sie als Beispiel für vieles, was bei der politischen Linken zurzeit schiefläuft. Was stört Sie?
Der Fokus der politischen Linken ist in den letzten Jahren falsch gewesen. Früher lag der Schwerpunkt der Linken, die ich in meinem Buch „Verantwortung“ Reformlinke nenne, auf der Ökonomie. Es ging ihr um gute Löhne, Tarifverträge und Beschäftigungssicherung und Wirtschaftswachstum, aber auch um die Verbindung von innerer und sozialer Sicherheit. All das ist abhandengekommen. Stattdessen hat heute eher eine „Kulturlinke“ das Sagen, die den Fokus komplett verschoben hat. Sie spricht lieber über Haltungsfragen und die aus ihrer Sicht richtigen Werte. Außer zu mehr Polarisierung der politischen Landschaft führt das allerdings zu nichts. Mit Realpolitik hat das nichts zu tun. Statt politische Antworten auf reale Probleme zu finden, geht es der Kulturlinken allein um die Frage, moralisch im Recht zu sein. Es kann aber niemand eine hundertprozentig weiße Weste haben, weil man in der Politik immer Kompromisse schließen muss. Die Realität an sich ist auch schmutzig.
Gleichzeitig wird immer wieder kritisiert, die SPD sei in den vergangenen Jahren zu wenig erkennbar gewesen und hätte sich in der Realpolitik zu sehr verbogen, hätte also zu wenig Haltung bewiesen. Wie passt das zusammen?
Die SPD besteht zurzeit aus wesentlich zwei größeren Gruppen – auch wenn man sagen könnte, dass es in der Partei eigentlich mittlerweile vier Parteien gibt. Grob gesagt aber zwei Gruppen: auf der einen Seite aus einer Regierungslinken, die nüchtern und pragmatisch Politik betreibt, ohne sich dabei allzu sehr in Debatten zu bewegen, und auf der anderen Seite aus einer Parteilinken, die sich immer stärker über Haltungsfragen definiert, aber kaum mal die Frage stellt, wie sie realpolitisch etwas umsetzen kann. Je nach Situation wird mal der eine und mal der andere Teil der SPD nach außen hin sichtbar, was zu einem diffusen Gesamtbild führt, sodass vielen nicht klar ist, wofür die Partei eigentlich steht. Deshalb bräuchte es eine Verantwortungslinke, die bereit ist, medial für etwas zu kämpfen und zwar ohne ideologische Scheuklappen.
Was zählt aus Ihrer Sicht das bessere Argument in einem Zeitalter des Populismus, in dem es Politiker*innen gibt, die sich überhaupt nicht um Verantwortung scheren, sondern aus Stimmungen politischen Profit schlagen wollen?
Für mich gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Populismus und populärer Politik. Politiker müssen in der Lage sein, ihre Politik auch zu popularisieren, ohne dabei in Populismus abzudriften. Dafür ist es notwendig, dass Politiker ihre Vorschläge eigentlich rund um die Uhr erklären und sagen, warum sie in der jeweiligen Situation die besten sind. Die Menschen müssen spüren, dass ein Politiker für seine Positionen brennt und den unbedingten Willen hat, sie durchzusetzen. Dafür braucht es einen gesunden Mix aus Vernunft und Emotion. Wenn das gelingt, sind die Populisten durchaus zu schlagen. Der Slogan sollte sein: Make Vernunft sexy again. Leider fehlt die Verbindung aus Realismus und Vision der SPD zurzeit.
In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Postmaterialisten in unsicheren Zeiten auch eher zu materialistischer Politik neigen. Rechnen Sie damit, dass die Corona-Krise zu einem Schwenk hin zu mehr Realpolitik führen wird?
Ja, davon bin ich überzeugt. In meinem Buch schreibe ich, dass die Politik in der Rezession auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt wird. Damit meine ich Materialismus und politische Ökonomie. In einer Notsituation geht der Wunsch nach reiner Wertepolitik zurück und Interessen nehmen zu. Die Corona-Krise ist noch viel mehr als nur eine Rezession. Sie ist ein epochaler Einschnitt und wird vieles, das wir kannten, verändern. Ich denke und hoffe, dass der Materialismus den Moralismus in der Politik ablösen wird. Nur dann hat eine Linke in einer Post-Corona-Zeit die Chance, politisch wieder zur führenden Kraft zu werden. In den kommenden Monaten wird es vor allem um die Frage der Beschäftigungssicherheit gehen und darum, wie wir Europa ökonomisch zusammenhalten. Für eine Verantwortungslinke bieten sich da große Chancen, wenn sie auf der Höhe der Zeit ist. Allerdings muss ich sagen, dass ich angesichts der Lage der Partei pessimistisch bin.
Ich glaube, die SPD hat personelle Probleme und weiterhin auch programmatische. Die Partei steht bei 14 Prozent und das Plus-Minus schon länger. Auf eine Debatte um ihre Lage und Ausrichtung lässt die Partei sich seit Jahren nicht ein. Es wirkt manchmal so, dass sie gar nicht mehr gewinnen will, sondern nur noch in Schönheit sterben will – mit der richtigen Haltung. Mir scheint auch, dass man in der SPD akzeptiert hat, dass das mit der Volkspartei vorbei ist. Man richtet sich daher etwas im 15-Prozent-Turm ein und sagt sich: Naja, für ein paar von uns reicht es doch und wir machen halt Soziales. Bei der Fast-40-Prozent-Union sieht man aber auch, dass man noch Volkspartei sein kann. Die Union hat aber auch unglaublich hohe Kompetenzwerte. Wahlen werden über Kompetenz und Zutrauen entschieden. Sowohl was das Personal als auch das Programm angeht. Der SPD fehlen Typen und klare Konzepte, mit denen man Kompetenzzutrauen zurückgewinnen kann.
Schon Max Weber hat gesagt, dass drei Qualitäten wichtig sind für einen Politiker: Leidenschaft, Augenmaß und eben Verantwortungsgefühl. Sie schreiben im letzten Satz ihres Buches, es sei „Zeit für die Rückkehr eines sozialdemokratischen Staatsmannes, dem der Weg ins Kanzleramt zuzutrauen ist“. Wem aus der SPD trauen sie das zu?
Aus meiner Sicht bräuchte es jetzt jemanden wie damals Helmut Schmidt. Er war ein Weltökonom, der linke Wirtschaftspolitik betrieben und gleichzeitig kein Blatt vor den Mund genommen hat. Dabei hatte er eine glasklare Kante in Fragen der inneren Sicherheit und bei außenpolitischen Konflikten. So ein Staatsmann wird heute in der SPD schmerzlich vermisst. Entscheidend ist, dass die Person politische Urteilskraft mitbringt, Differenzierung wagt und den Mut hat, auch mal abseits der ausgetretenen politischen Pfade zu denken. Vom aktuellen Personal traue ich das am ehesten noch Olaf Scholz zu. Dafür sollte er allerdings den Mut haben, öfter mal auch einen deftigen Satz zu sagen und linker zu werden. Gerade weil die kommenden Jahre heftig werden, brauchen wir einen Keynesianer im Kanzleramt. Aber nochmal: Ich schwanke gerade zwischen Optimismus, Fatalismus und Zweifel. Die SPD hat theoretisch alle Chancen der Welt. Sie ist ein riesiges Ölfeld, welches nur ausgeschöpft werden muss. Aber niemand will den Mut aufbringen, zu bohren.
Es wurden auch viele Diskussionen in den letzten Jahren über die Schwäche geführt. In der Parteiführung hat das aber keinen Eindruck gemacht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass von außen in die SPD-Bubble eigentlich nichts mehr reingeht. Sie ist wie ein geschlossenes Öko-System. In Berlin macht man eh was man will – was im Zweifel was Diffuses mit Haltung ist. Die SPD als Volkspartei hat aber eigentlich gerade Pluralität, interne Debatte und Widerspruch groß gemacht. Das scheint verschwunden. Es gibt so einen Drang nach einem großen SPD-Family-Gefühl. Nur hat die Family halt nur noch 14 Prozent. Ich weiß nicht, was ein Mann allein, also Olaf Scholz, da rumreißen will. Die Partei an sich, muss lernen, wieder Pluralität zuzulassen und Menschen mit unterschiedlichen Meinungen eine Chance zu geben. Ein Staatsmann hat nur mit einer guten Mannschaft eine Chance. Ohne Scottie Pippen und Dennis Rodman wäre Michael Jordan nicht Champion geworden. Es ist nun mal so, wie es ist.
Nils Heisterhagen ist Politikwissenschaftler, Sozialdemokrat und Publizist. Im Jahr 2018 erschien sein Buch „Die liberale Illusion“ und vor wenigen Wochen sein Buch „Verantwortung. Für einen neuen politischen Gemeinsinn in Zeiten des Wandels“ (ISBN ISBN 978-3-8012-0569-0, 19,90).Der Gesprächspartner