Sozialdemokratie

Nils Heisterhagen: „Der SPD fehlt die Verbindung aus Realismus und Vision.“

Kai Doering21. Mai 2020
Publizist Nils Heisterhagen: Der Fokus der politischen Linken ist in den letzten Jahren falsch gewesen.
Publizist Nils Heisterhagen: Der Fokus der politischen Linken ist in den letzten Jahren falsch gewesen.
Der politischen Linken in Deutschland geht es mehr um Haltungsfragen, statt um Realpolitik, kritisiert der Publizist Nils Heisterhagen. Die Folgen der Corona-Krise könnten eine Gelegenheit sein, das zu ändern – wenn sie die richtigen Schlüsse zieht.

Statt großer Kundgebungen gab es wegen Corona dieses Jahr am 1. Mai zum ersten Mal nur ein Programm im Internet. Was verbinden Sie mit dem „Tag der Arbeit“?

Der 1. Mai lebt von Emotionen, von Symbolik und von Kampfeswillen. Die politische Linke symbolisiert an diesem Tag ihr Dasein an sich. Digital konnte das in diesem Jahr leider nur sehr begrenzt rübergebracht werden.

In Ihrem Buch „Verantwortung“ fordern Sie, den 1. Mai „nicht nur als Folklore“ zu begehen. Woran denken Sie dabei?

Mich stört, wenn Lehrer oder Angestellte zum 1. Mai so tun, als wären sie die großen Arbeiter oder Gewerkschafter, am besten noch begleitet von einer Reihe von Facebook-Posts. Das hat für mich mit dem Sinn des 1.Mai nichts zu tun, sondern ist einfach nur Inszenierung oder eben Folklore – vor allem, wenn man sich während des restlichen Jahres eher mit Klimaschutz, guter Ernährung oder Identitätspolitik beschäftigt. Aus meiner Sicht ist das weder authentisch, noch ehrlich.

Der 1. Mai steht für Sie als Beispiel für vieles, was bei der politischen Linken zurzeit schiefläuft. Was stört Sie?

Der Fokus der politischen Linken ist in den letzten Jahren falsch gewesen. Früher lag der Schwerpunkt der Linken, die ich in meinem Buch „Verantwortung“ Reformlinke nenne, auf der Ökonomie. Es ging ihr um gute Löhne, Tarifverträge und Beschäftigungssicherung und Wirtschaftswachstum, aber auch um die Verbindung von innerer und sozialer Sicherheit. All das ist abhandengekommen. Stattdessen hat heute eher eine „Kulturlinke“ das Sagen, die den Fokus komplett verschoben hat. Sie spricht lieber über Haltungsfragen und die aus ihrer Sicht richtigen Werte. Außer zu mehr Polarisierung der politischen Landschaft führt das allerdings zu nichts. Mit Realpolitik hat das nichts zu tun. Statt politische Antworten auf reale Probleme zu finden, geht es der Kulturlinken allein um die Frage, moralisch im Recht zu sein. Es kann aber niemand eine hundertprozentig weiße Weste haben, weil man in der Politik immer Kompromisse schließen muss. Die Realität an sich ist auch schmutzig.

Gleichzeitig wird immer wieder kritisiert, die SPD sei in den vergangenen Jahren zu wenig erkennbar gewesen und hätte sich in der Realpolitik zu sehr verbogen, hätte also zu wenig Haltung bewiesen. Wie passt das zusammen?

Die SPD besteht zurzeit aus wesentlich zwei größeren Gruppen – auch wenn man sagen könnte, dass es in der Partei eigentlich mittlerweile vier Parteien gibt. Grob gesagt aber zwei Gruppen: auf der einen Seite aus einer Regierungslinken, die nüchtern und pragmatisch Politik betreibt, ohne sich dabei allzu sehr in Debatten zu bewegen, und auf der anderen Seite aus einer Parteilinken, die sich immer stärker über Haltungsfragen definiert, aber kaum mal die Frage stellt, wie sie realpolitisch etwas umsetzen kann. Je nach Situation wird mal der eine und mal der andere Teil der SPD nach außen hin sichtbar, was zu einem diffusen Gesamtbild führt, sodass vielen nicht klar ist, wofür die Partei eigentlich steht. Deshalb bräuchte es eine Verantwortungslinke, die bereit ist, medial für etwas zu kämpfen und zwar ohne ideologische Scheuklappen.

Was zählt aus Ihrer Sicht das bessere Argument in einem Zeitalter des Populismus, in dem es Politiker*innen gibt, die sich überhaupt nicht um Verantwortung scheren, sondern aus Stimmungen politischen Profit schlagen wollen?

Für mich gibt es einen wesentlichen Unterschied zwischen Populismus und populärer Politik. Politiker müssen in der Lage sein, ihre Politik auch zu popularisieren, ohne dabei in Populismus abzudriften. Dafür ist es notwendig, dass Politiker ihre Vorschläge eigentlich rund um die Uhr erklären und sagen, warum sie in der jeweiligen Situation die besten sind. Die Menschen müssen spüren, dass ein Politiker für seine Positionen brennt und den unbedingten Willen hat, sie durchzusetzen. Dafür braucht es einen gesunden Mix aus Vernunft und Emotion. Wenn das gelingt, sind die Populisten durchaus zu schlagen. Der Slogan sollte sein: Make Vernunft sexy again. Leider fehlt die Verbindung aus Realismus und Vision der SPD zurzeit.

In Ihrem Buch schreiben Sie, dass Postmaterialisten in unsicheren Zeiten auch eher zu materialistischer Politik neigen. Rechnen Sie damit, dass die Corona-Krise zu einem Schwenk hin zu mehr Realpolitik führen wird?

Ja, davon bin ich überzeugt. In meinem Buch schreibe ich, dass die Politik in der Rezession auf den Boden der Tatsachen zurückgeführt wird. Damit meine ich Materialismus und politische Ökonomie. In einer Notsituation geht der Wunsch nach reiner Wertepolitik zurück und Interessen nehmen zu. Die Corona-Krise ist noch viel mehr als nur eine Rezession. Sie ist ein epochaler Einschnitt und wird vieles, das wir kannten, verändern. Ich denke und hoffe, dass der Materialismus den Moralismus in der Politik ablösen wird. Nur dann hat eine Linke in einer Post-Corona-Zeit die Chance, politisch wieder zur führenden Kraft zu werden. In den kommenden Monaten wird es vor allem um die Frage der Beschäftigungssicherheit gehen und darum, wie wir Europa ökonomisch zusammenhalten. Für eine Verantwortungslinke bieten sich da große Chancen, wenn sie auf der Höhe der Zeit ist. Allerdings muss ich sagen, dass ich angesichts der Lage der Partei pessimistisch bin.

Ich glaube, die SPD hat personelle Probleme und weiterhin auch programmatische. Die Partei steht bei 14 Prozent und das Plus-Minus schon länger. Auf eine Debatte um ihre Lage und Ausrichtung lässt die Partei sich seit Jahren nicht ein. Es wirkt manchmal so, dass sie gar nicht mehr gewinnen will, sondern nur noch in Schönheit sterben will – mit der richtigen Haltung. Mir scheint auch, dass man in der SPD akzeptiert hat, dass das mit der Volkspartei vorbei ist. Man richtet sich daher etwas im 15-Prozent-Turm ein und sagt sich: Naja, für ein paar von uns reicht es doch und wir machen halt Soziales. Bei der Fast-40-Prozent-Union sieht man aber auch, dass man noch Volkspartei sein kann. Die Union hat aber auch unglaublich hohe Kompetenzwerte. Wahlen werden über Kompetenz und Zutrauen entschieden. Sowohl was das Personal als auch das Programm angeht. Der SPD fehlen Typen und klare Konzepte, mit denen man Kompetenzzutrauen zurückgewinnen kann. 

Schon Max Weber hat gesagt, dass drei Qualitäten wichtig sind für einen Politiker: Leidenschaft, Augenmaß und eben Verantwortungsgefühl. Sie schreiben im letzten Satz ihres Buches, es sei „Zeit für die Rückkehr eines sozialdemokratischen Staatsmannes, dem der Weg ins Kanzleramt zuzutrauen ist“. Wem aus der SPD trauen sie das zu?

Aus meiner Sicht bräuchte es jetzt jemanden wie damals Helmut Schmidt. Er war ein Weltökonom, der linke Wirtschaftspolitik betrieben und gleichzeitig kein Blatt vor den Mund genommen hat. Dabei hatte er eine glasklare Kante in Fragen der inneren Sicherheit und bei außenpolitischen Konflikten. So ein Staatsmann wird heute in der SPD schmerzlich vermisst. Entscheidend ist, dass die Person politische Urteilskraft mitbringt, Differenzierung wagt und den Mut hat, auch mal abseits der ausgetretenen politischen Pfade zu denken. Vom aktuellen Personal traue ich das am ehesten noch Olaf Scholz zu. Dafür sollte er allerdings den Mut haben, öfter mal auch einen deftigen Satz zu sagen und linker zu werden. Gerade weil die kommenden Jahre heftig werden, brauchen wir einen Keynesianer im Kanzleramt. Aber nochmal: Ich schwanke gerade zwischen Optimismus, Fatalismus und Zweifel. Die SPD hat theoretisch alle Chancen der Welt. Sie ist ein riesiges Ölfeld, welches nur ausgeschöpft werden muss. Aber niemand will den Mut aufbringen, zu bohren.

Es wurden auch viele Diskussionen in den letzten Jahren über die Schwäche geführt. In der Parteiführung hat das aber keinen Eindruck gemacht. Manchmal habe ich den Eindruck, dass von außen in die SPD-Bubble eigentlich nichts mehr reingeht. Sie ist wie ein geschlossenes Öko-System. In Berlin macht man eh was man will – was im Zweifel was Diffuses mit Haltung ist. Die SPD als Volkspartei hat aber eigentlich gerade Pluralität, interne Debatte und Widerspruch groß gemacht. Das scheint verschwunden. Es gibt so einen Drang nach einem großen SPD-Family-Gefühl. Nur hat die Family halt nur noch 14 Prozent. Ich weiß nicht, was ein Mann allein, also Olaf Scholz, da rumreißen will. Die Partei an sich, muss lernen, wieder Pluralität zuzulassen und Menschen mit unterschiedlichen Meinungen eine Chance zu geben. Ein Staatsmann hat nur mit einer guten Mannschaft eine Chance. Ohne Scottie Pippen und Dennis Rodman wäre Michael Jordan nicht Champion geworden. Es ist nun mal so, wie es ist.

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Kommentare

Ja - die Richtung stimmt

Ein Beitrag, der Hoffnung macht, Hoffnung auf eine Ende der Herrschaft Identitäts-Jakobiner in der Partei. Ein Hoch auf Helmut Schmidt. Ein Hoch auf Olaf Scholz. Ein Hoch auf Ahmed Aboutaleb (NL). Ein (bedingtes) Hoch auf Keynes (denn: Auf das Momentum kommt es an, "die beste Methode ist der Methodenwechsel", das gilt auch für die volkswirtschaftlichen Denkschulen, auch das Keynes'sche Besteck kann mal wieder rostig werden). Danke, Herr Heisterhagen.

Linke Wirtschaftspolitik?

Hat Helmut Schmidt eine linke Wirtschaftspolitik betrieben? Na das scheint mir aber erklärungsbedürftig zu sein.

Partei einfach nicht modern

Die SPD stand in den 1970ern nicht so gut da, weil Kanzler Schmidt "Weltökonom" war, sondern weil sie inhaltlich modern und auf der Höhe der Zeit war. Vieles, was damals gemacht wurde, etwa in der Frauenpolitik, würde wohl heute als Identitätspolitik abgetan werden.

Der Gegensätz zwischen einer Identitätspolitik und der Arbeitgeberpolitik ist ein künstlicher, der mit der Realität nichts zu tun hat. Arbeit schafft Identität, genauso wie ein Homosexueller Arbeiter sein kann. Übrigens ist Donald Trump 2016 mit Identitätspolitik gut gefahren.

Die SPD steht deshalb so schlecht da, weil sie sich permanent mit sich selbst beschäftigt, statt zu schauen, was die Leute beschäftigt. Sie ist weder von der Sprache, noch den Inhalten auf der Höhe der Zeit, und hat kaum noch ansprechende Führungspersönlichkeiten.

Wer glaubt, die Inhalte am 1. Mai würden etwas mit dem Zustand der Partei zu tun haben, will die SPD offensichtlich in ein lebendes Museum verwandeln. Die Gesellschaft hat sich verändert, die Partei nicht. Das ist der einfache Grund, warum die Partei steht, wo sie steht.

Stimmungslage

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Passt gar nicht zur Realität !

Ich bin wirklich verdutzt was Genosse Nils Heisterhagen hier als Analyse abliefert.
Dem will ich ein einfaches Bild entgegensetzen:
Da stehen überwiegend konservative ProtagonistInnen der SPD zusammen mit leicht nach links gerutschten Akteuren der CDU/CSU auf der Kommandobrücke der verrosteten "Deutschland", nachdem die bereits drei Eisberge (Klimakatastrophe, Fluchtbwegungen durch Krieg und Ungleichheit, Pandemie ) gerammt hat und die Crew tut alles dafür, dass die Stimmung an Bord nicht kippt. Dass tun sie vor Allem mit Versprechen. Bei den Passagieren beliebt sind vor allem die Kapitänin und der Verwalter der Bordkasse, die viel Versprechen und Drinks ausgeben und bisher weder Gedanken daran verschwenden das Schiff in die Werft zu bringen noch den Kurs zu ändern. Die Stimmung steigt wieder nach den Schrecken und die Hoffnung ist groß ! Sie wird fast so groß wie die Eisberge die ignoriert schnell mehr werden und kaum noch zu umfahren sind ! Jetzt können wir uns alle vorstellen, wie schnell die Stimmung kippt wenn auch nur der nächste Eisberg an der Bordwand kratzt !
Manchmal ist es realpolitisch nützlich den Kurs zu ändern. Auch durch ein linkes Fernrohr sehen wir viel !

Scholz

Scholz ist bis heute ein Vertreter der Neoliberalen in der SPD.
Er soll die Rettung sein?
Lufthansa will 9 Millaren Knete zur Rettung. Bekommt diese auch - mit der
SPD und ohne Sperrminorität von 21 Prozent.
Lächerlich! Wann wir Schreiten Seit an Seit wird so zum Hohn!

Schreiten Seit an Seit

Spätesten seit 1914 wissen wir doch, daß es in der SPD Teile gibt die Seit an Seit schreiten mit Reakionären, Monopolisten, Militaristen und Neoliberalen. Warum wunderst Du Dich ?

Wundern

Über die weit überwiegend neoliberale Realpolitik der SPD, jedenfalls auf Bundesebene, wundere ich mich schon seit 1999 nicht mehr. Ich wundere mich doch sehr über diesen Beitrag von Niels Heisterhagen!

Trotzdem bin ich als 1953 Geborener und 'Willy wählen' getan Habender davon nach wie vor überzeugt, dass die
Leitlinien des Demokratischen Sozialismus, der heute ein Demokratischer, Ökologischer Sozialismus sein muss,
absolut unverzichtbar sind. Personen in der SPD kommen und gehen. Wenn die SPD den Demokratischen Sozialismus
aufgibt und den Ökologischen Sozialismus nicht realisiert - wird sie untergehen.

Am Anfang des Ökologischen Sozialismus muss jedenfalls die Sozial-ökologische Transformation innerhalb einer echten, wirkungsmächtigen Wirtschaftsdemokratie stehen. Von da aus kann und muss weiter gedacht werden - jedenfalls in Richtung internationale Solidarität, Kooperation statt Konkurrenz; weg vom BIP-Wachstums-Dogma.

Die Sozialdemokratie war doch schon mal viel weiter.
Z.B.: Nord-Süd Kommission - Willy Brandt
Ökologie - Hermann Scheer
Friedens-/Abrüstungspolitik: Erhard Eppler !