Ein Spaziergang durch Berlins Mitte über den Gendarmenmarkt, ein Stück entlang am Konzerthaus und dann vielleicht einen "café" oder, wenn es kalt ist, eine "bouillon", und auf dem Rückweg
durch "monbijou" oder in der "charité" einen kranken Freund besuchen, egal wie man es hält, man muss ein Holzkopf sein, fragt man sich nicht, woher diese ganze Französiererei?
Tragisch, dass Politik und Volk ein lausiges historisches Gedächtnis haben. Andernfalls würde man sich heute viele langwierige Diskussionen um Zuzöglinge, Einwanderer und andere Eindringlinge
sparen und einen Moment inne halten, um sich zu erinnern.
Das heutige Deutschland mit seiner Statistik, in der jeder Fünfte einen Migrationshintergrund hat und nicht perfekt Deutsch spricht und innerhalb seiner kulturellen religiösen oder ethnischen
Herkunft heiratet, ein Land in dem es Gegenden gibt, wo mancher Griesgram bemängelt, dass nicht die eigene, als bedeutungsvoller empfundene Amtssprache gesprochen wird: Dieses Deutschland hat es
schon mal gegeben.
Schon damals Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt
Man mache in seinem Spaziergang einen Schlenker und laufe um den 1701 errichteten französischen Dom, der prächtig und zentral wie die geplante Kölner Zentralmoschee gelegen ist und den
Immigranten gehörte, die seit 1685 anreisten. Diese Immigranten flohen aus allen Teilen ihres Herkunftslandes Frankreich und waren keine homogene Gruppe. Von 40 000 Flüchtlingen ließ sich die
Hälfte in Brandenburg-Preußen nieder. Jeder fünfte Berliner war ein Immigrant. Im Stadtteil Berlin-Moabit lebten überhaupt keine Deutschen.
Die Einwanderer waren eine geschlossene Kolonie und sprachen ihre Heimatsprache. Und auch die Bewohner Berlins hatten alles andere vor, als sich ihnen zu öffnen. Denn die Angereisten waren
Konkurrenten auf dem Arbeitsmarkt, und die Berliner weigerten sich, die begabten Handwerker in ihre Innungen aufzunehmen. Die Ablehnung der Berliner war nachvollziehbar, so mussten sie für die
Zugereisten eine zusätzliche Steuer zahlen und zusehen, wie Sonderrechte den Immigranten mit Unterkünften, Bauland, einer eigenen Schule, Hospital, Kirche und Friedhof das Leben
erleichterten.
Natürlich hat der damalige Regierende, der erste Preußenkönig, zu seinen Gästen gehalten und war nicht so unredlich zu sagen: "Ihr dürft erst eine große, prächtige Kirche bauen, wenn ich in
Eurem Land auch eine bauen darf." Natürlich geschah diese Politik nicht ohne Eigennutz, man versprach sich wirtschaftlichen Aufschwung davon.
Fast hundert Jahre später erfolgte ein erneuter Zustrom aus dem Heimatland der ersten Einwanderer, die aus Glaubensgründen geflohen waren. Die zweite Welle kam aus politischen Gründen,
dieses Mal waren es die gelehrten und besser gestellten Klassen. Der heute als deutscher Klassiker der Literatur gehandelte wunderbare, kluge Theodor Fontane beispielsweise war ein Dichter mit
Migrationshintergrund und entsprang der Generation der Revolutionsflüchtlinge.
Lessing sorgt sich um die deutsche Sprache
Und die anderen Klugen? Sie regten sich auf. "Die teutsche Sprache kommt ab, eine andere schleicht sich ein!" polterte Lessing gar abfällig in einem Brief an den Berliner Buchhändler Nicolai.
"Ihr in Eurem französierten Berlin."
Und heute? Wer kräht danach, dass irgendein Bürger Berlins von den Hugenotten abstammt? Schon nach etwas über 100 Jahren hugenottischer Einwanderung rebellierte niemand mehr ernsthaft, denn
die Franzosen bürgerten sich ein, wechselten die Namen und heirateten Deutsche.
Und so wird sich in hundert Jahren vermutlich auch keiner mehr moquieren, dass irgendein Berliner türkischen Ursprungs ist. Vorausgesetzt, Regierende halten zu ihren Einwanderern und lassen
sie ihre Kirchen, Schulen, Kranken- und Altenhäuser bauen und unterwerfen jeden Bürger ein und demselben Gesetz, das Freiheit für den Einzelnen gewährt und Gleichheit unter allen garantiert. Und
damals wie heute gilt: Nur wer ökonomisch und kulturell Anschluss findet, bekommt weder eine alte deutsche, noch eine neue französische oder türkische, sondern eine allen gemeinsame neue deutsche
Identität. Voilà, l'intégration politique!
Mely Kiyak, 1976 in Niedersachsen geboren, ist Autorin, Journalistin und Kolumnistin u.a.
für "Die Zeit", "Frankfurter Rundschau" und "Die Welt". Sie nahm als Journalistin an der deutschen Islamkonferenz teil und wurde 2009 als erste Migrantin überhaupt zum Mitglied des
Goetheinstituts berufen.
Buchtipp
Mely Kiyak: 10 für Deutschland. Gespräche mit türkeistämmigen Abgeordneten
Edition Körber-Stiftung 2007, 253 Seiten, 14,00 Euro, ISBN 978-3-89684-068-4