Interview zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag

"Mutiger Schritt der geteilten Verantwortung"

Karsten Wenzlaff20. Juli 2010

vorwaerts.de: Warum polarisiert Netzpolitik?

Stadelmeier: Medien- und Netzpolitik spielt eine immer wichtigere Rolle für die Gesellschaft. Durch die Möglichkeit, sich zeitgleich und weltweit auszutauschen, entsteht eine
neue Kommunikationsform, die mit den klassischen Medien nicht möglich war. Datenaustausch, schnelle Kommunikation und Meinungsbildung - das zieht die Politik an und macht die Netzpolitik
spannend.

In der Sozialpolitik steht die SPD als Arbeiterpartei eher auf Seiten der Arbeitnehmer. Wo steht sie in der Netzpolitik? Gehört sie zur digitalen Avantgarde?

Medien- und Netzpolitik hat viele Felder - von der klassischen Rundfunk- und Presseregulierung, über Frequenzpolitik bis zur Regulierung im Internet. Die SPD muss, wie in anderen
Politikfeldern auch, dafür sorgen, dass unterschiedliche Interessen zu gesellschaftlich vernünftigen Lösungen zusammengeführt werden.

Was sind die dringendsten Aufgaben für eine sozialdemokratische Netzpolitik?

Die digitale Schere in Deutschland zu schließen - das müssen wir als Erstes angehen. Das fängt natürlich an bei leistungsstarken Glasfasernetzen überall in Deutschland, die zu einer
Grundversorgung für digitale Inhalte notwendig sind. Dazu gehört aber auch die Durchsetzung von Netzneutralität, also die Verhinderung von Beeinträchtigungen des Datentransports. Und viele
Fragen, die in der analogen Welt geregelt sind, Stichworte Kriminalität, Urheberrecht, Wirtschaftsverkehr, müssen für die digitale Welt passgenau gemacht werden.

Kommen wir zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der in der Netzcommunity sehr umstritten ist. Was sind die wichtigsten Vorteile der Neuregelung des JMStV?

Das Internet bringt viele gute Möglichkeiten, auch für Kinder und Jugendliche, aber auch manche Gefährdungen. Damit muss man umgehen und das regelt der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, indem
er Kinder und Jugendliche schützt. Das geschieht auf der Basis eines nutzerautonomen Systems, das heißt, dass einerseits die Freiheit des Internets garantiert bleibt, andererseits die
Entscheidungen von Eltern für Programme zum Schutz von Kindern und Jugendlichen ermöglicht.

Ist das die Verbesserung gegenüber dem Status Quo, gegenüber dem alten Jugendmedienschutz-Staatsvertag?

Das Defizit des alten Jugendmedienschutz-Staatsvertrags war, dass nicht so deutlich auf die Nutzer, auf die Eltern gesetzt wurde. Man hatte so hohe Kriterien für Jugendschutz festgelegt, dass
es in der Praxis immer aufs Löschen hinauslief - das war nicht akzeptabel.

Die Verhandlungen zwischen den Ministerpräsidenten waren sehr intensiv - bei welchen Punkten hat sich die SPD durchgesetzt?

Der Entwurf des Staatsvertrags ist von den SPD-geführten Ländern maßgeblich mitentwickelt worden, er ist somit ein Kind der SPD. Wir konnten die CDU-Länder damit komplett überzeugen.

Jetzt steht die Ratifikation des von den Ministerpräsidenten verabschiedeten Jugendmedienschutz-Staatsvertrags an - wird es heftige Diskussionen in den Landtagen geben angesichts der
Reaktion der Netzcommunity?

Wir brauchen eine positive Diskussion, um auch die Eltern davon überzeugen können, dass sie selbst in der Verantwortung stehen, die Werkzeuge für den Schutz von Kindern und Jugendlichen im
Netz zu verwenden. Eine der großen Herausforderungen ist es, die Eltern zu erreichen. Geplant ist, dass wir uns mit der Industrie und den anderen Marktteilnehmern zusammenzusetzen, um die Eltern
zu sensibilisieren, aber an diesem Punkt sind auch alle Länder gefragt.

Wird das auch Angebote wie jugendschutz.net betreffen?

Jugendschutz.net macht hervorragende Arbeit, aber erreicht noch nicht die vielen Millionen Erziehungsberechtigten in Deutschland. Dafür ist eine ganz andere
Form der Kommunikation erforderlich - das war nie die Aufgabe von jugendschutz.net.

Es gab auch Landtagsabgeordnete und Gremien wie der Gesprächskreis Netzpolitik, die Bedenken geäußert haben. Wie wurden diese Bedenken aufgenommen?

Wir haben eine intensive Diskussion geführt. Im Kern ging es immer um die Frage, welche Bedeutung hat die Freiheit des Netzes im Verhältnis zum Schutz von Kindern und Jugendlichen. Es gibt
Kritiker, die allesamt ein Problem haben, nämlich zu beantworten, wie sie Kinder und Jugendliche vor entwicklungsgefährdenden Angeboten schützen können.

Von diesen Kritikern wurden ja vor allem Probleme bei der Umsetzung moniert, zum Beispiel dass es schwer sei, im Echtzeitweb immer die passende Alters-Einstufung vorweisen zu können.
Insbesondere Seiten mit viel User-Generated-Content haben Schwierigkeiten die Altersfreigabe zu implementieren.

Das ist eine Frage, die von Anfang diskutiert wurde, insbesondere wie gehen wir mit Blogs um. Es ist völlig klar, wer Inhalte ins Netz einstellt, der muss dafür sorgen, dass diese Inhalte
kindgerecht sind, wenn man Kinder erreichen will. Aus dieser Verantwortung kann man niemanden lassen.

Eine zweite Frage war, was kann man dem privaten Blogger zumuten und was ist praktikabel. Deswegen werden wir eine relativ einfache Form der Selbsteinschätzung einführen. Falls hier ein
Anbieter Missbrauch betreibt, kann das eventuell Strafen nach sich ziehen und dann eben die Seite nur noch für über 18jährige erreichbar ist.

Die Kritik war aber, dass es in einem Akt vorauseilenden Gehorsams die Anbieter von Inhalten sich als "ab 18" einschätzen, um eventuellen Konflikten mit dem Gesetz aus dem Weg zu gehen.
Würde sich dadurch das Internet selbst zensieren?

Ich will nicht nicht ausschließen, dass es sowohl durch die Technik als auch durch die Selbsteinschätzung zu einem gewissen Overblocking kommen kann. Ich halte das nicht für durchschlagend Für
mich steht der Schutz von Kindern im Vordergrund der Überlegungen.

In einem Fall war aber schon das Blog "Netzpolitik.org" davon betroffen, an bayerischen Schulen gesperrt zu sein, da die eingesetzte Filtersoftware es als bedenklich eingestuft hatte.
Dann ist aber auch die Auseinandersetzung mit den Inhalten nicht mehr möglich, weil die Filtersoftware zu vorsichtig war.

Etwas mehr Vorsicht ist mir lieber als das Gegenteil. Im Übrigen gibt es noch keine zugelassenen Jugendschutzprogramme. Die in Bayern eingesetzte Software war eine Vorgängerentwicklung, die
aber noch keine Aussage über die später zugelassenen Programme zulässt.

Viele Kritiker aus der Netzcommunity sehen in dem Beispiel der bayerischen Filtersoftware, dass es kein vollständiges sicheres System des Jugendschutzes im Netz geben wird und man
deswegen die medienpädagogischen Angebote ausbauen müsste.

Kein System ist hundertprozentig sicher, es ist immer nur eine Annäherung. Man muss damit verantwortlich umgehen. Und auch Eltern müssen Verantwortung zeigen, sowohl die Programme richtig zu
nutzen als auch Angebote freizuschalten, die durch Overblocking rausgefiltert würden.

Aber es ist natürlich auch wichtig, medienpädagogische Angebote zu schaffen. In Rheinland-Pfalz wurden mehr als 16.000 Lehrer auf diesem Gebiet fortgebildet und ein Drittel der Schulen bietet
mit Laptopwagen und Computerzimmern die Möglichkeiten, die Medienkompetenz der Schüler zu stärken.

Die federführende Staatskanzlei in Rheinland-Pfalz hat während des Entstehungsprozesses des Jugendmedienschutz-Staatsvertrags die Öffentlichkeit gesucht. Trotzdem ist in der
Netzcommunity der Eindruck entstanden, dass die Verhandlungen zwischen den Ländern unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfanden. Wodurch ist dieser Eindruck entstanden?

Dieser falsche Eindruck ist bewusst vermittelt worden, um die Argumentation von Einigen im Netz zu stärken. Das entspricht aber nicht der Realität - wir sind sehr früh mit allen Entwürfen und
Stellungsnahmen an die Öffentlichkeit gegangen, wir haben bei Veranstaltungen wie dem Politcamp in Berlin oder bei der Anhörung in Mainz den Dialog mit der Netzcommunity gesucht. Der
Diskussionsprozess war also kein Geheimnis. Das öffentliche Interesse steigerte sich allerdings erst in der Schlussphase.

Liegt das daran, dass es noch nicht gelungen ist, die Verhandlungen zwischen den Länderregierungen und den dortigen Experten frühzeitig in die Öffentlichkeit zu tragen? Fehlen uns die
Tools, um aus der Expertendebatte eine gesellschaftliche Debatte zu machen?

Das will ich nicht ausschließen. Es war keineswegs so, dass die Verhandlungen zwischen den Länderregierungen Geheimverhandlungen waren, sondern wir haben einen öffentlichen Prozess
organisiert, der aber in der politischen Szene erst am Schluss Resonanz gefunden hat

Was hätten Sie getan, damit der Jugendmedienschutz-Staatsvertrag nicht so kritisch diskutiert worden wäre?

Das sicherlich größte Problem war das Informationszugangserschwerungsgesetz von Ursula von der Leyen zur Bekämpfung von Kinderpornographie. Sie wollte das Netz zensieren und das hat
berechtigte Kritik hervorgerufen. Natürlich hat das auch die Diskussion um den Jugendmedienschutz-Staatsvertrag beeinflusst, obwohl ein völlig anderer Ansatz gewählt worden ist.

In drei Jahren soll der Staatsvertrag evaluiert werden. Warum ist diese Evaluation so wichtig?

Wir betreten mit diesem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag Neuland, indem wir den Weg der coregulierten Selbstregulierung stärken. Wir setzen mit diesen Staatsvertrag Leitplanken, aber wie die
Straße befahren wird, müssen die einzelnen Akteure bestimmen, also auf der einen Seite die Anbieter von Inhalten, auf der anderen Seite die Eltern und die Jugendschutzbehörden. Das ist ein
mutiger Schritt der geteilten Verantwortung und der muss nach einiger Zeit evaluiert werden. Schon die letzte Evaluierung hat ja gezeigt, dass der Jugendschutz im Grundsatz funktioniert, aber an
einigen Stellen nachgebessert werden muss.

Wie sieht das konkret aus?

Es wird sicherlich eine wissenschaftliche Auswertung und eine Befragung unter anderem von Eltern und Jugendschutzbehörden geben.

Wie können sich die Netzbürger in die Evaluierung einbringen?

Erstmal natürlich gilt es, abzuwarten, bis der Staatsvertrag in Kraft tritt. Dann werden wir auch Möglichkeiten schaffen, sich online zu Wort zu melden und die Umsetzung des Staatsvertrages zu
begleiten.

Vielen Dank für das Gespräch!

Hintergrundinformationen zum Jugendmedienschutz-Staatsvertrag

Der Schutz von Kindern und Jugendlichen ist im Grundgesetz verankert. Der JMStV ersetzt weder die Erziehungspflicht von Eltern noch die Notwendigkeit von medienpädagogischen Projekten in den
Ländern und auch Technik kann und soll Erziehung nicht ersetzen. Der JMStV soll den Eltern Hilfestellungen bieten, wie sie ihre Kinder vor beeinträchtigenden Inhalten schützen können.

Der JMStV erweitert die Optionen, die ein Anbieter ergreifen kann, um seinen Pflichten nachzukommen. Er kann selbst entscheiden, welche Maßnahmen er ergreift (Beschränkung der Sendezeit,
Vorschaltung eines technischen Schutzes oder Programmierung für ein Jugendschutzprogramm). Mit den aktuellen Regelungen werden keine neuen Sendezeitenregelungen eingeführt, es besteht für die
Inhalteanbieter bereits seit Inkrafttreten des JMStV 2003 die Möglichkeit, ihrer Verpflichtung nachzukommen, indem sie entwicklungsbeeinträchtigende Angebote erst ab einer bestimmten Uhrzeit im
Netz zur Verfügung stellen.

Es werden keinerlei Änderungen beim Anbieterbegriff vorgenommen. Diesen bestimmt weiterhin das Telemediengesetz des Bundes, dessen Regelungen seit Jahren bestehen, also gibt es diesbezüglich
keine Rechtsunsicherheiten. Eine Sperrinfrastruktur wird mit der Novellierung des JMStV nicht aufgebaut.

Bei der jüngsten Altersgruppe hat sich an den gesetzlichen Verpflichtungen nichts geändert: Der Anbieter muss Inhalte, die Kinder beeinträchtigen können, weiterhin von eigenen Kinderangeboten
abtrennen. Hat er keine Kinderangebote, hat er in diesem Bereich auch keine zusätzlichen Pflichten.

Die Altersstufen werden aus dem geltenden Jugendschutzgesetz übernommen. Anbieter, die keine Altersklassifizierung durchführen, werden von Jugendschutzprogrammen nicht generell ausgefiltert.
Die (freiwillige) Altersklassifizierung kann entweder von einer Einrichtung der Freiwilligen Selbstkontrolle oder vom Anbieter selbst durchgeführt werden. Selbstkontrolleinrichtungen arbeiten
bereits an Selbstklassifizierungssystemen, die den Anbietern anhand übersichtlicher Online-Fragebögen eine eigenständige Altersbewertung ermöglichen sollen. Diese Alterskennzeichnung soll dann
von nutzerautonomen Jugendschutzprogrammen ausgelesen werden. Anbieter von Portalen, die fremde Inhalte beinhalten (user-generated-content oder Web 2.0-Angebote) und die ein Interesse daran haben
von Kindern und Jugendlichen genutzt zu werden, können ebenfalls einesolche Kennzeichnung vornehmen.

Sofern ein Jugendschutzprogramm von den Eltern eingesetzt wird, steht es ihnen bei der Einstellung frei, ob und in welchem Umfang sie nicht gekennzeichnete Inhalte ausfiltern lassen wollen
oder nicht. Wird kein Jugendschutzprogramm installiert bzw. wird dieses deaktiviert, sind weiterhin alle in- und ausländischen Seiten erreichbar.

Die Alterseinstufungen können von der Kommission für Jugendmedienschutz überprüft und erforderlichenfalls korrigiert werden.

Anbietern, die ein Interesse daran haben, rechtssichere Alterseinstufungen zu bekommen, steht daneben die Möglichkeit offen, die Altersbewertung von einer anerkannten Einrichtung der
Freiwilligen Selbstkontrolle vornehmen zu lassen und dies dann der Kommission für Jugendmedienschutz vorzulegen.


Martin Stadelmaier ist seit 2003 Chef der rheinland-pfälzischen Staatskanzlei, außerdem Vorsitzender des Vorstands des Mainzer Medieninstituts, Mitglied des ZDF-Fernsehrats sowie Mitglied
des Beirats der Bundesnetzagentur.

Sozialdemokratische Netzpolitik

Vorteile des Jugendmedienschutzstaatsvertrags

Kritik am Jugendmedienschutzsstaatsvertrag

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Evaluation des Jugendmedienschutzstaatsvertrags

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